„Ich bin nicht Deniz“ – Nachbetrachtung

3. März 2017
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Die Achse des Guten | Europa | FAZ-Kritik | Freiheit | Ironie | Machiavelli | Medien | Tichys Einblick

Ursprünglich war heute ein historischer Beitrag angedacht. Die Aktualität der Geschehnisse überrollt allerdings den Plan des Diariums, und so sehe ich mich zu einem Einschub gezwungen. Der Artikel über die Gefangennahme Deniz Yücels war im Grunde nur ein Nebentraktat; hätte mir jemand gesagt, dass dieser Beitrag innerhalb von 24 Stunden zum meistgelesenen Stück auf dieser Seite wird, hätte ich vermutlich nur ungläubig die Augenbrauen gehoben. Konsequenz: die Worte aus der Löwenfeder haben in den ersten Märztagen mehr Leser erreicht als im ganzen Vormonat – und der gehörte mit dem populären „Was hat Trump vor?“-Beitrag, der es dann auch auf Tichys Einblick schaffte, zu den bis dato erfolgreichsten in der Diariengeschichte.

Das soll jedoch keine Erfolgsaufzählung oder Lorbeerzurschaustellung sein; Stammleser wissen, dass mir Artikel wie kürzlich über Dura Europos wichtiger sind. Insofern war meine erste Frage: warum ausgerechnet Yücel? Wie kommt es, dass dieser Beitrag das kleine Standcafé auf Facebook in ungeahnte Höhen katapultiert? Auch auf Kathstern verfehlte der Artikel seine Wirkung nicht und wurde allein von dort nochmal 600mal auf dem Gesichtsbuch geteilt. Es folgten Lob, Zustimmung, neue Follower. Auf Twitter wurde noch kein Löwenbeitrag so oft von so vielen verschiedenen Nutzern geteilt. Selbst Nicolaus Fest – dem ich an dieser Stelle nochmals danke – entging das Traktat nicht und verbreitete es weiter:

Fest Deniz

Im Nachhinein scheint wohl das zuzutreffen, was ich im abschließenden Absatz provokant zuspitzte: die „Solidarität“ einer abgeschlossenen Kaste, die sich selbst bejammert und bedauert, und dabei jedes Maß verliert – bspw. hinsichtlich anderer Opfer, aber auch objektiverer Reflexion – scheint bei einem nicht geringen Teil der Leser Unverständnis oder Ärger auszulösen. Informierte Nutzer wissen von den deutschfeindlichen Ausfällen Yücels und begreifen nicht, warum der deutsche Staat eingreifen sollte. Dies ist zwar nicht die vorwiegende Argumentation meines eigenen Beitrags, aber es ist zumindest eine kritische Darstellung. Dass die Quantitätsmedien von Welt bis Spiegel, taz und Zeit in den Kanon der universellen Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit einstimmen, obwohl jeder Machiavellist im Erstsemester weiß, das Recht nur da gilt, wo ein Rechtsstaat ist, verwundert nicht; noch mehr, man phantasiert sich sogar große Solidaritätswellen in Deutschland zurecht* und hält sich für das Zünglein an der Waage im politischen Geschacher:

Zeit Fehlschluss

Beachten Sie die „realpolitische“ Weisheit in der Zeit, die auf eine völlig neue Spielregel machiavellistischen Zusammenlebens hinausläuft, nämlich, dass laut der Logik dieses Zeit-Autors nicht etwa der Geiselnehmer, sondern die Geisel Forderungen stellt. Dass Yücel das Faustpfand ist, mit dem Erdogan nun Deutschland erpressen kann, um seiner „Bitte“ nach Auftritten in Deutschland Nachdruck zu verleihen, kommt den Schmalspur-Borgias der Redaktionsstuben so gar nicht in den Sinn. Es gibt aber einen Eindruck, in welcher Position man sich in diesen Gefilden glaubt, nämlich als Teilnehmer und Akteur der Weltpolitik. Nicht, dass wir alle dergleichen Spekulationen hegten, wenn sich manch eine Schreibfeder auf dieselbe Stufe mit dem US-Präsidenten stellt, um diesem mal richtig die Meinung zu geigen, oder der ganzen Welt vorschreiben will, wie diese zu retten sei; aber man soll mir nicht im Nachhinein vorwerfen, ich lieferte keine Belege.

Was jedoch in der Causa auffällt: selbst die „typischen Verdächtigen“ bleiben stumm. Auf Tichys Einblick wird der Fall auch nach Tagen nicht thematisiert. Selbst die Achse des Guten – sonst immer bissig – schweigt. Beim Online-Auftritt der JF bleibt es beim Interview mit Sarrazin, der sich auch noch mit Yücel solidarisiert und das Problem nicht etwa in einem abgehobenen und unverantwortlichen türkischen Reporter sieht, sondern in der doppelten Staatsbürgerschaft (!). Was ist da los, wenn selbst die alternativen Medien sich nicht einmischen?

Ich sehe hier den unverhältnismäßigen Erfolg von „Ich bin nicht Deniz“ begründet. Leser finden ihre Meinung nicht mehr repräsentiert, wenn Journalisten als Kartell arbeiten und nur ihre eigene Meinung lesen (bzw. das Thema bewusst oder unbewusst verschlafen). Das geht vielleicht bei anderen Unternehmen und Lobbys, erinnert aber hier ans heruntergekommene Theater und das Gebührenfernsehen, wo „Künstler“ sich nicht etwa am Publikumsgeschmack orientieren, sondern an den Wünschen ihrer eigenen Kaste. Dass Opern- und Theaterinszenierungen einen ähnlichen Niedergang erleben wie die klassischen Quantitätsmedien dürfte nicht verwundern – abgesehen von jenen Künstlern, die ihr Publikum als provinzielle Banausen beschimpfen und jenen Journalisten, die mit Fake News, Verblödung und bösen Russentrollen ihre eigenen Verschwörungstheorien zusammenschustern.

Letzteres gilt übrigens nicht nur für Sender, sondern auch jene Empfänger, die den Quantitätsmedien treu ergeben sind, weil diese ihre Meinung abbilden. Für diese Gruppe von Leuten ist natürlich alles in Ordnung. Meinungsabweichler hingegen können nur böse sein. So durfte ich mir auch auf dem Gesichtsbuch zum ersten Mal vorwerfen lassen, „völkisches Geschwurbel“ von mir zu geben oder ein Rassist zu sein. Es bestätigt so ziemlich meine These, dass diese Leute, die sich für aufgeklärt und freiheitlich halten, in Wirklichkeit nur die vorgefertigten Denkschablonen anderer übernehmen. Wer eine andere Meinung hat als der Massenstrom, ist verdächtig. Das Schmittianische Freund-Feind-Schema, das seit 68 gepredigt wird, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen – nicht von der überall gefürchteten Neuen Rechten oder der AfD verbreitet, sondern an vorderster Front von etablierten Zeitungen, dem Fernsehen und dem Radio, die ihre eigene, oftmals linksextreme Meinung als Fakt und Wahrheit verkaufen.

Dabei gäbe es bei den investigativen Journalisten eine Menge Ungereimtheiten im Fall Yücel, die mich immer mehr beschäftigen, aber irgendwie dauernd ausgeklammert werden:

Primo: Was hat Yücel in der Zeit zwischen seinem Haftbefehl am 26. Dezember und seiner Verhaftung im Februar getan? Wieso hat er anscheinend keine Vorbereitungen zur Abreise getroffen? Wieso hat er sich stattdessen freiwillig gestellt?

Secundo: Weshalb hat die Welt ihren Journalisten nicht rechtzeitig abgezogen? Die Welt hatte bereits im Frühling letzten Jahres ihren Korrespondenten zurückberufen, weil sich Yücel bei einer Pressekonferenz zu rebellisch verhalten hatte. Damals gab es in der Türkei noch keinen Ausnahmezustand und erst recht keinen Haftbefehl gegen Yücel – warum also nicht im Januar, als Zeit dafür war? Diese Frage wäre insbesondere Welt-Chefredakteur Poschardt zu stellen, der öffentlichkeitswirksam das Martyrium Yücels ausschlachtet, obwohl mitverantwortlich für die Inhaftierung seines Korrespondenten – die Türkei ist nicht erst seit gestern als eines der Länder bekannt, das weltweit auf den hintersten Rängen der Pressefreiheit landet.

Tertio: Wieso wird selten oder nie erwähnt, dass Yücel aus türkischer Sicht kein Ausländer ist? Warum wird so getan, als könnte hier nationales deutsches Recht nationales türkisches Recht brechen? (Man kann hinzufügen, dass es offensichtlich ist, dass man diese Achillesferse medial nicht ansprechen will – es ist aber wohl erlaubt, sie aufzuzählen.)

Quarto: Warum hat man überhaupt einen Provokateur und erklärten Erdogangegner bei der Welt angeworben, um diese heikle Korrespondentenstelle zu übernehmen? Hätten Sie als Chefredakteur einer großen Tageszeitung einen erklärten Kommunistenhasser in die Sowjetunion geschickt, der dazu als Russe wegen seiner Staatsangehörigkeit jederzeit aufgegriffen werden könnte? Ist dieses Verhalten vorausschauend oder verantwortlich zu nennen?

Quinto:: Mein Gedächtnis mag vielleicht irren, aber gab es eigentlich einen ähnlichen Furor in den deutschen Medien, als der Journalist Billy Six in Syrien festgehalten wurde? Ach, ich vergaß – falsche Zeitung, falsches Land, falsche Gesinnung …

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*Was, wie im Falle der FAZ, auch nach hinten losgehen kann, wenn übermütige Organisatoren einfach die Unterschriften von Leuten auf Anzeigen setzen, die diese nie unterschrieben haben. Zum Organisationsteam der Anzeige gehörten übrigens u. a. SPIEGEL-Autorin Sybille Berg und – Achtung! – Jan Böhmermann.

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