Patriotismus und Katholizismus: Unvereinbar geeint? (II)

14. April 2016
Kategorie: Europa | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Mittelalter | Regionalismus | Venedig

Das Besondere an diesem Markuskult zeigte sich aber speziell nach der Expansion Venedigs auf dem Festland im 15. Jahrhundert. Denn im Gegensatz zu dem, was oft in der Fachliteratur behauptet wird, verblieb diese Identifikation als „Markusschützling“ nicht bei der städtischen Elite Venedigs und auch nicht nur in der Hauptstadt selbst. In der Tat war es gerade die Oberschicht in den großen Städten der hinzugewonnenen Territorien – Padua, Verona, Vicenza – die immer noch auf die eigene Unabhängigkeit hinarbeitete. Das gemeine Volk, ja, selbst Bauern im Umland, identifizierten sich dagegen aufällig schnell mit der Markus-Ideologie und damit des „venezianischen Gesamtgedankens“ den ich hier ketzerischerweise als Proto-Nationalismus bezeichne. Nur ein halbes Jahrhundert, nachdem Venedig den Nordosten Italiens für sich gewonnen hatte, bezeichneten sich die Einwohner bereits vielerorts als „Marciani“. „Venezianer“ konnten sie sich damals auch schlecht nennen, denn sie blieben in ihrem Bewusstsein natürlich weiterhin Angehörige des venetischen Umlandes; aber „Marciano“ wurde von der Adda bis nach Dalmatien hinein und sogar auf Korfu alsbald eine Parole, um seine Loyalität für Venedig auszudrücken.

Hier kommt ein Knackpunkt. Viele Historiker definieren den Patriotismus vor dem 19. Jahrhundert insbesondere als „Staatsloyalität“. Das gilt natürlich für die Oberschicht, die als Teil der politischen Elite auf die Zukunft ihres Gemeinwesens einwirken konnte. Schwierig wird aber diese Erklärung, wenn plötzlich Bauern und gemeines Landvolk anfangen, sich zu einem Gemeinschaftsgefühl zu bekennen, das nicht aus reiner Staatsloyalität besteht, sondern aus einer beinahe irrationalen Liebe zu einer Idee.

Ein paar Beispiele. Im Krieg der Liga von Cambrai (1509), nur 50 Jahre nach der Eroberung der Terraferma durch Venedig, rebellierten große Teile der einfachen Bevölkerung gegen die ausländischen Besatzer. Viele der lokalen Eliten kooperierten mit den Habsburgern oder den Franzosen, in der Hoffnung, ihre Privilegien zu wahren und eine Autonomie für ihre Städte zu gewinnen. Die kleinen Leute dagegen bildeten Partisanentruppen und pinselten sogar Bilder des Evangelisten Markus auf die Hauswände. Als man in Vicenza den Markuslöwen von seiner Säule stieß und abtransportierte, überfielen Bauern den Trupp, überwältigte die Soldaten und brachten das Evangelistentier in Sicherheit. Ähnliches musste Niccolò Machiavelli erleben, als er Botschafter in Verona am kaiserlichen Hof war, und einige gefangene Bauern dort des Hochverrats wegen anklagt werden sollten. Der Bischof von Trient, der von Kaiser Maximilian als Richter eingesetzt wurde, wollte den Gefangenen die Todesstrafe erlassen, wenn sie Venedig abschworen. Der bekam aber nur zur Antwort:

»Und er [der Gefangene] sagte, dass er für San Marco sei, und für San Marco wolle er sterben, und anders wolle er nicht leben; und nichts anderes könne ihn von dieser Meinung abbringen.«

Als es dann zur Belagerung Paduas durch kaiserliche Truppen kam, formten sich Bataillone aus Freiwilligen, die den Bedrängten zur Hilfe eilten, und mit „Marco! Marco! Marco!“ in den Krieg zogen. Der Widerstandswille überraschte Maximilians Heer. Bis dahin hatten die Kommandanten gedacht, dass Venedigs Fall nur noch eine Frage der Zeit sei. In Wirklichkeit brachte die Belagerung von Padua die Wende. Nahezu dreihundert Jahre später sollte dieses tief in der Bevölkerung sitzende „Wir-Gefühl“ die Veroneser zum Aufstand gegen Napoleon veranlassen; aber davon habe ich ja woanders ausführlich genug geschrieben.
Noch in der Seeschlacht von Lissa (1866), bei der die österreichische Marine gegen die italienische kämpfte, konnte Admiral Tegetthoff die an Bord dienenden venetischen Matrosen (Venetien gehörte noch zu Habsburg) mit dem Schlachtruf „Viva San Marco!“ gewinnen – 70 Jahre nach dem Untergang der Serenissima!

Ich habe hier ausführlich das venezianische Beispiel gewählt, weil es das berühmteste ist. Die meisten italienischen Kommunen verloren ihren Status als Republik oftmals im Zuge des Aufstiegs der Signori. Dennoch galt dieses Konzept des Patrons als Identifikationszentrum für nahezu alle italienischen Städte. In Mailand war dies der Heilige Ambrosius, in Brescia der Heilige Faustinus – und so weiter. Das dalmatinische Ragusa hatte den Heiligen Blasius als Schutzpatron, und aufgrund des langanhaltenden Streits mit Venedig kam es oftmals zu Sticheleien, welche die Überlegenheit des einen oder anderen Heiligen zum Thema hatten – missglückte venezianische Expeditionen führten die Ragusaner auf das Wirken des Heiligen Blasius zurück, der für schlechte Winde gesorgt hätte. Pisa, neben Venedig und Genua die dritte große Seerepublik, unterhielt ein inniges Verhältnis zu ihrem Stadtpatron Sixtus. Dessen Gedenktag, der 6. August, galt als positiver Tag für große Unternehmungen – vor allem militärische! Eine kleine Auswahl:

6. August 1003: Die Pisaner besiegen eine muslimische Flotte bei Civitavecchia.
6. August 1005: Die Pisaner verwüsten das sarazenisch besetzte Reggio (Calabria).
6. August 1063: Die Pisaner überfallen, plündern und verwüsten das sarazenische Palermo.
6. August 1087: Die Pisaner wiederholen dasselbe im sarazenischen Mahdia.
6. August 1119: Die Pisaner schlagen ihre Erzfeinde, die Genuesen, bei Porto Venere.
6. August 1135: Die Pisaner überfallen Amalfi. Der Schlag ist so schwer, dass Amalfi, eine der vier großen Seerepubliken neben Venedig, Genua und Pisa selbst, von diesem Zeitpunkt an sich nie mehr erholen wird.
6. August 1282: Die Pisaner schlagen ihre Erzfeinde, die Genuesen, bei Porto Venere. Mal wieder.

Vielsagend ist aber auch die letzte pisanische Seschlacht. Am 6. August 1284 kommt es zur größten Galeerenschlacht, die das Mittelmeer bis dahin gesehen hat. Pisaner und Genuesen treffen sich bei Meloria. Man ist hoffnungsfroh, neuerlich zu gewinnen, denn es ist wieder San Sisto – allerdings endet das Massaker in einer desaströsen Niederlage, die für Pisa so katastrophal ausfällt, wie für Amalfi die Plünderung von 1135. Pisa erholt sich nie wieder davon. Man glaubt an ein Omen und sich von San Sisto verlassen. Der Bruch ist so enorm, dass man von da an den Heiligen Sixtus als Stadtpatron austauscht – gegen San Ranieri (Rainer von Pisa).

Berühmt ist dieser Zusammenhang von städtischer bzw. regionaler Identität und Christentum im Zuge der Kriege des Lombardenbundes gegen die kaiserliche Gewalt geworden. Die lombardischen Städte zogen mit einem Carroccio in den Krieg – einem Triumphwagen, auf welchem ein Altar und ein Banner des Schutzpatrons stand. Es handelte sich um das Ehrenzeichen der Stadt, das besonders bewacht wurde und dessen Verlust als Schmach galt. Trompeter und Posaunisten spornten von hier die Bürger der jeweiligen Kommune an. Bis heute kann man so einen Carroccio beim Palio di Siena sehen.

Es ist im Übrigen auffällig, dass die innere Stabilität der Kommunen eben dann schrumpfte, wenn der gemeinsame Stadtgedanke (=Patronsgedanke) zugunsten der familiären Klientelstrukturen litt. Heißt: plötzlich war nicht mehr die Ehre des Stadtheiligen wichtig, sondern die Loyalität zu einem Personenkreis. Eben die Krankheit, die den Beginn von Oligarchien und letztendlich Monarchien auszeichnet. Oder anders gesagt: die Liebe zum Vaterland wird aus Karrieregründen geopfert. Kennen wir ja alles. Kaum hatten die Visconti die Herrschaft in Mailand erworben und sich zu Grafen, dann Herzögen ernannt, war die Herrscherfamilie so wichtig wie die Dynastie in monarchischen Systemen. Das Andenken an den Heiligen Ambrosius schwand; den ursprünglichen Stadtsymbolen wichen neue. So geschehen beim berühmten Biscione, der Schlange auf dem Mailänder Wappen, das ursprünglich das Symbol der Visconti war.
Oder, wenn Sie einen Alfa Romeo sehen: schauen Sie mal ganz genau auf das Markenzeichen. Da lebt die Visconti-Herrschaft bis heute fort.

Ebenso wenig überraschend mutet es an, dass, kaum, dass die Visconti ausstarben, eine Republik des Heiligen Ambrosius ausgerufen wurde, die eher an das venezianische Modell anknüpfte.

Was aber für Italien galt (und teilweise immer noch gilt) lässt sich ebenso im deutschen Teil des Reiches nachweisen. Bekanntestes Beispiel ist Köln, wo die Heiligen drei Könige nach deren… Ausleihe aus Mailand zu Stadtpatronen wurden und Aufnahmen ins Wappen fanden. Weniger bekannt: sie fungierten sogar als Richter bei Streitigkeiten. Kölner Bürger mussten vor Gericht auf die Bibel oder Reliquienknochen schwören, die dafür extra herbeigeführt wurden. Wie man Köln so kennt, hatte man natürlich auch andere „Knöchelchen“ zum Ersatz, wenn die Gebeine der Weisen gerade nicht zur Hand waren…

Dennoch: auch eine Freie Reichsstadt wie Köln sah sich besonders aufgrund des Schutzes ihrer Heiligen – neben den Magi auch die Heilige Ursula samt Gefährtinnen – von Gott auserwählt. Man hob sich nicht nur wegen Reichtum und Macht ab. Im Gegenteil: man war reich und einflussreich, weil man die Heiligen auf seiner Seite hatte. Und die Weisen aus dem Morgenland waren mächtige Patrone. Wieder funktionierte die Religion inklusiv für verschiedene Kölner Gesellschaftsschichten, um ein städtisches „Wir“-Gefühl zu erzeugen, und um sich wiederum nach außen hin exklusiv abzugrenzen.

In den christlichen Monarchien zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung ab, wenn sich christliche Heere gegenüberstanden. Bestes Beispiel ist der Hundertjährige Krieg. Für König und Gott kämpften beide Seiten. Es verblüfft daher wenig, dass auch gerade dieser historische Konflikt als Ursprung eines englischen und französischen Nationsverständnisses angesehen wird – mit Saint George! und Montjoie! Saint Denis! auf der jeweiligen Seite. Die Aragonesen riefen nach Sant Jordi!, die Portugiesen nach San Jorge! und in der Reconquista alle zusammen unter Führung der Kastilier: Santiago! Santiago! Dennoch blieb die Identifikation mit dem Patron hinter der republikanischen Entwicklung zurück, da der Monarch noch bis weit in die Neuzeit hinein identifikationsstiftend blieb. In den royalistischen Fraktionen des 19. Jahrhunderts noch darüber hinaus.

Gerade diese Konfrontationen unter Christen waren und sind immer noch für viele Skeptiker ein Argument, gegen eine irgendwie geartete „res publica christiana“ oder eine Europa-Konzeption zu wettern. Das Gegenteil ist der Fall. Die Heiligen bilden eine Familie, eine Gruppe, wie sie die Apostel der christlichen Frühzeit bilden. In jeder Familie gibt es jedoch Streit. Auch die frühen Christen waren – im Gegensatz zu vielen romantisierten Bildern heute – nicht immer eine Meinung. Sonst hätten Paulus und Co. nicht immer Briefe schreiben müssen, um die verschiedenen Gemeinden zu ermahnen. Gerade hier rufe ich mal meinen Schutz- und Namenspatron auf: Marcus war nämlich, nach allem, was man so in der Apostelgeschichte liest, ein ziemlicher Dickkopf, der sich überdies auch mal mit Paulus angelegt hatte. Ähnlich, wie Venedig eben auch den anderen gerne mal auf die Füße trat.

Dass nach außen hin aber die christlichen Völker, Städte, Republiken und Monarchien zusammenhielten, wenn sie alle ihre Schutzpatrone zitierten, und es diese europäische Gemeinschaft sehr wohl gab, verdeutlicht das Gemälde von Paolo Veronese zur Schlacht von Lepanto; alle Heiligen zusammen, vor Maria, darum bittend, den Sieg über die Türken zu gewähren. Dem voraus ging ein europaweiter Aufruf des Papstes, den Rosenkranz zu beten, weswegen die gesamte katholische Welt sich am 7. Oktober im Gebet vereint sah.

Lepanto

Universalismus? Hm. Auserwähltsein des christlichen Volkes? Oh ja.

Das heißt nicht, dass Christen nicht auch anderen Menschen helfen sollen. Es heißt aber: über Jahrhunderte war es keinerlei Problem, dass man zuerst mal den eigenen Leuten beistand, bevor man in die Ferne schweifte. Und von denen in der Ferne waren auch da erst einmal die Brüder und Schwestern in Christo gemeint.

Schon zeitgeistig, dass man solche Selbstverständlichkeiten heute ausbreiten muss. In einer Gesellschaft, die Wehrhaftigkeit als unchristlich abweist, ist es ironisch zu erwähnen, dass ausgerechnet der Erzengel Michael der Patron der Deutschen ist.

Teilen

«
»