Patriotismus und Katholizismus: Unvereinbar geeint? (I)

13. April 2016
Kategorie: Europa | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Medien | Mittelalter | Regionalismus | Venedig

Der Diskurs in Deutschland und Europa reicht heutzutage ins Absurde. Das beginnt mit der Liebe für Terroristen und Gruppierungen, die sich die Aufgabe machen, für einen besonders zu beten; und es reicht bis tief hinein in gewisse Kreise, die jede Gewaltanwendung als unchristlich empfinden. Ich halte solche Urteile immer für anmaßend; denn das bedeutet, dass die Malteser, welche die gesamte Frühe Neuzeit hindurch die Korsaren im Mittelmeer bekämpften und deren christliche Galeerensklaven befreiten, schlechtere Christen gewesen sein müssen als eben unsere feinen Gut-Christen, die eben nur, weil es solche Männer mal gab, heute in Frieden leben können.

Im Angesicht der Bedrohung durch „braune Rattenfänger“ (Bonner Stadtdechant dixit) erscheint mittlerweile nicht nur jede Gewaltanwendung, sondern auch patriotische Gefühlswendung als unchristlich. Im Prozess der Universalismen scheint nunmehr auch das Evangelium offene Grenzen zu predigen. Jede Abgrenzung oder Abschottung gilt als unbarmherzig, der Ruf nach dem Nationalstaat erscheint als neufaschistische Bedrohung. Es wäre in dieser Hinsicht nicht nur wieder einmal wichtig, auf Echthros und Polemios hinzuweisen (das Thema verfolgt mich mittlerweile alltäglich), sondern auch auf den simplen Fakt, dass die frühen Christen erst einmal untereinander zusammenhielten, und gerade das Johannesevangelium vor Abgrenzungen strotzt: insbesondere zwischen der frühen Christengemeinde und den Juden, zwischen dem auserwählten Volk und allen außerhalb davon. Im Griechischen Original wird das oftmals mit Parallelismen wie „die Jünger“ und „die Juden aber“ offensichtlich.
Nur so als kleiner Anfangsgedanke, zusammen mit der Anmerkung, dass Jesus auch nicht immer der stoisch-lächelnde Typ war. Mir wäre jedenfalls neu, dass die, welche den Vater beleidigen, eine diplomatische Behandlung verdienen. Tempel, Händler und so.

Wieder stelle ich diesem Beitrag voran: ich bin kein Theologe. Aber ich bin Historiker genug, um diese These weiterzuführen. Insbesondere, da ich persönlich davon überzeugt bin, dass das Christentum Ausgangspunkt eines Proto-Nationalismus ist, an dem sich später die Aufklärung und das 19. Jahrhundert für ihre eigenen Ideologien weitreichend bedient haben. Um es ganz deutlich auszudrücken: die Identifikationsstiftung als Volk hing in Europa so inhärent mit dem Christentum zusammen, dass sich beides nur wenig trennen lässt. Volksidentität auch in dem Sinne, dass es außerhalb der Eliten um sich griff.

Ich mache mich damit ziemlich angreifbar, da in weiten Teilen meines Fachs jegliche Identität als „Volk“ außerhalb der Eliten nahezu kategorisch vor den napoleonischen Umwälzungen ausgeschlossen wird. Das habe ich auch größtenteils geglaubt. Meine persönlichen Forschungen und die Quellen, die ich kenne, haben aber das, was mir an der Universität und an der Schule jahrelang eingehämmert wurde, erheblich ins Wanken gebracht. Insbesondere meine Beschäftigung mit der Republik Venedig und den italienischen Kommunen.

Ich werfe dem interessierten Publikum eine Frage in die Runde: wie viele Republiken gab es außerhalb Europas im Mittelalter und der Frühen Neuzeit vor dem Zeitalter des globalen, europäischen Kolonialismus? Mit Republiken meine ich von einer wie auch immer gearteten Versammlung gewählte Minister, Vorsitzende oder Amtsträger (auf Zeit oder lebenslänglich), die möglichst nicht aus ein und derselben Familie stammen. Das trifft, nach allem, was ich bisher erschlossen habe, nur auf die europäischen Republiken zu; mögen es die italienischen Kommunen, die deutschen Reichsstädte, die Eidgenossenschaft, die Vereinigten Provinzen (Niederlande), oder selbstbestimmte Mittelmeerhäfen sein (bspw. Ragusa/Dubrovnik).* Man könnte die aztekischen Städtebünde ansprechen, doch handelte es sich dabei im engeren Sinne eher um Konföderationen mit einem gewählten Monarchen, der in seiner Funktion jedoch absolut regierte. Üblicherweise besitzen klassische Republiken Mechanismen, um die Herrschaft des jeweiligen Vorsitzenden eben in keine Diktatur abdriften zu lassen.

Republiken sind deswegen interessant, weil ihnen ein Monarch fehlt, und damit einhergehend alle Identifikationsfaktoren, die ein Monarchie mit sich bringt. „Für Gott und König“ lohnt es sich zu sterben, aufgrund der Verquickung monarchischer Herrschaft mit der Religion. Auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches ist der Fall klar: der römisch-deutsche König wird zwar gewählt, aber die Kaiserkrönung durch den Papst macht das besondere Band zwischen Gott und Kaiser deutlich. Die alten Teilreiche der Franken bezogen sich daher auch immer auf den König, nicht das Gebiet: Lothringen leitet sich vom Reich Lothars ab, ebenso existierte ein Reich Ludwigs und ein Reich Karls. Daneben spielte die Elite eines jeden Volkes eine Rolle. Karl der Große nannte sich „rex Langobardorum“, König der Langobarden, nachdem er Italien eroberte; dabei waren die Langobarden doch nur eine relativ kleine, germanische Herrscherelite, die über die erdrückende romanische Ursprungsbevölkerung herrschte. Aber wir sehen: es kam zumindest zuerst nicht so sehr auf das Land oder Bevölkerung an, sondern auf die Machtelite, die etwas zu sagen hatte.

Kurz: als Subjekt des Herrschers identifiziere ich mich mit meinem Monarchen und dessen Reichsidee. Die Vorstellung von Loyalität verläuft personal.

In dieser Hinsicht kommen die Republiken ins Spiel, insbesondere die italienischen, die um das Jahr 1000 fassbar werden. Die klammern sich mitnichten an irgendeiner bestimmten Person fest, da die Ämter rotieren. In den meisten Städten Italiens heißen die Funktionsträger Konsuln, in Anlehnung an die römische Republik. Im Unterschied zu den antiken Republiken verläuft die Identifikation jedoch nicht über einen bestimmten Ursprungsmythos oder einen göttlichen Ahnherrn. Da nunmehr breitere Volksschichten am politischen Leben teilnehmen, braucht es einen gemeinsamen Kitt, der über die Vorstellung einer Adelselite hinausgeht, die sich durch göttliches Fatum oder Abstammung auserkoren sieht.

Diesen neuen sozialen Kitt, der nicht nur die adlige Oberschicht, sondern auch Kaufleute, Handwerker und einfache Leute anspricht, findet sich in der Verehrung des lokalen Patrons. Das ist im Übrigen auch der Grund, weshalb oben vor allem „Katholizismus“ steht. Die jeweilige Gemeinschaft teilt nämlich eine Angelegenheit: den gemeinsamen Gottesdienst in der Hauptkirche eines ganz bestimmten Heiligen. Im besten Falle besitzt die Stadt auch noch Reliquien, und je prestigeträchtiger der Heilige oder die Quantität der Reliquien, desto auserwählter erscheint die Stadt. Überdies ergibt sich dadurch ein Motiv der „Abgrenzung“ von den Nachbarn, die einen anderen Schutzpatron verehren.

Exemplarisch mag dafür die Legende von der Überführung des Heiligen Markus nach Venedig erscheinen. Die Gebeine des Evangelisten sind wohl im 9. Jahrhundert nach Venedig gelangt. Die reichlich ausgeschmückte Legende stammt aber aus späterer Zeit, als sich die Kommune Venedig bereits gebildet hatte, und ein gewähltes Stadtregiment Venedig beherrschte. Die beiden Helden der Geschichte sind keine Adligen in dem Sinne: zwar ist Buono ein Tribun und der Oberschicht zugehörig, wird jedoch als Kaufmann beschrieben. Sein Freund Rustico ist Tischler und vertritt symbolisch die Handwerker. Die Mannschaft wird genau geschildert; jeder Matrose kommt von einer anderen Laguneninsel und übt einen spezifischen Beruf aus. Dazu gesellt sich ein fränkischer Ritter. Selbst zwei griechische Segler sind dabei – und ein jüdischer Arzt mit seiner Frau. Ein Spiegelbild der venezianischen Gesellschaft samt ihrer Zugezogenen und Verbündeten. Das Abenteuer des „Venise en miniature“, das San Marco, den großen Schutzpatron, mit vereinten Kräften nach Venedig holt, ist somit das Heldenepos des venezianischen Volkes. Die Venezianer müssen keine Ungeheuer bekämpfen, erleben keine „Avventurie“ und keine klassischen Ritterabenteuer; auch ihre Herausforderung gegen die Muslime bewältigen sie nicht mit dem Schwert, sondern mit List und Verstand. Das alles unter dem Schutz des Evangelisten, der ihre Überfahrt über das Meer gewährleistet und sie einen Sturm überwinden lässt.

Insofern kennt die venezianische Legende keinen König Arthus, keinen Siegfried oder Parzifal. Der Hauptakteur der venezianischen Geschichte ist nicht eine wichtige Person oder eine bedeutende Schicht; es ist das Volk von San Marco. Die Venezianer brauchen keinen legendären König, da ihr Schutzpatron präsent ist. Daher spricht man von der Republik von San Marco. Der höchste Repräsentant des Staates ist nicht der real-regierende König, sondern der im Himmel auf Gott einwirkende Evangelist. Wer Venedig besucht, dem wird das deutlich: überall sieht man Markuslöwen, aber Denkmäler von Senatoren oder Dogen sucht man vergeblich; die sind nur als Grabmäler in Kirchen anzutreffen. Die Öffentlichkeit prägt San Marco; und es ist bezeichnend, dass auf den venezianischen Münzen, also der geprägten Identität Venedigs – und ich übertreibe weiß Gott nicht, wenn man sich vor Augen führt, welche Bedeutung Geld für eine Handelsrepublik hat! – genau dieses Thema vorherrscht.

Zecchino

Der Doge ist der oberste Repräsentant der Republik und nimmt kniend das vexillum, bzw. den venezianischen Gonfalon in Empfang, die Stadtflagge Venedigs, die damit religiösen wie politischen Wert hat. Man nenne mir mal ein Oberhaupt Europas, das sich auf einer Münze so demütig hat abbilden lassen! Der mächtigste Mann der Republik ist ein bloßer Bittsteller, der seine Gewalt aus den Händen von San Marco erhält. Wenn der Doge stirbt, kniet eben ein neuer. Der höchste Amtsträger bekam nicht einmal ein Staatsbegräbnis, das musste die Familie privat abhalten und selbst bezahlen. Kühl ließen sich dann die Venezianer vernehmen: Der Doge ist tot, aber nicht die Signoria.
Die Darstellung des knienden Dogen vor San Marco prägte die venezianischen Golddukaten von deren Einführung bis zum Untergang der Republik – und verdeutlichte damit die immerwährende Botschaft, dass die Republik eine ewige, vom Evangelisten beschützte war, an der austauschbare Personalien beteiligt wurden. Auf der anderen Seite prangte Jesus Christus höchstpersönlich, zusammen mit dem Motto: SIT T[ibi] XPE (Christe) DAT[us] Q[uem] T[u] REGIS ISTE DVCAT[us] – Dir, Christus, sei dieses Herzogtum, welches du regierst, gegeben.

Die oftmals kolportierte Ansicht, die Venezianer seien in ihrem republikanischem Stolz so von sich selbst überzeugt, dass sie Gott geringschätzten, ist daher eine contradictio in adiecto: das Selbstbewusstsein Venedigs führte eben aus der Überzeugung heraus, eine enge Verbindung zu Christus über den Evangelisten Marcus zu besitzen. Der beliebte Spruch „Prima veneziani, dopo cristiani“ (Zuerst Venezianer, dann Christen) war vor allem ein Kampfspruch gegen das Papsttum, mit dem die Republik immer wieder aneinandergeriet. Die Markusbasilika war Staatsbesitz, und ebenso hielt die Republik die Einmischung in Bischofsfragen für illegitim. Die Venezianer waren fromm und gottesfürchtig wie die übrigen Landsleute der italienischen Halbinsel; ihre besondere Beziehung zum Patron und der Grundgedanke, einer auserwählten, christlichen Republik anzugehören, fundamentierten eigentlich erst den Gedanken, sich mit Rom anlegen zu können. San Marco besaß sogar eine eigene Liturgie (rito marcolino), die wohl zwischen der römischen und orthodoxen angesiedelt war, aber heute leider nicht mehr völlig rekonstruiert werden kann.

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*Aus thematischen Gründen gehe ich hier nur auf die katholischen Gebiete ein.

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