Wir leben in historischen Zeiten

19. Februar 2016
Kategorie: Allgemein | Alltägliche Gedankenstreifzüge | Antike | Carl Schmitt | Europa | Freiheit | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Machiavelli | Non enim sciunt quid faciunt | Persönliches | Philosophisches

In den Geruch des Zeitgeistes mischt sich eine herbe Note von Schwefel. Jeder, der riechen will, wittert es; aber es zu deuten vermögen nur wenige. Seit Wochen und Monaten schon werden die Menschen vielerorts das Gefühl nicht los, dass hier etwas passiert. Dass man Teil eines Momentes ist; eine jener zweigschen Sternstunden der Menschheit, von denen man weiß, dass sie alles und nichts bedeuten. Vielleicht ist die eigentliche, die entscheidende Stunde noch nicht gekommen; womöglich ist sie auch schon vergangen; das werden erst Historiker feststellen können, wenn jene Lawine von Ereignissen über uns hinweggerollt ist, und sich Ruhe über die Geschehnisse gelegt hat. Manche fürchten dabei: es könnte eine Friedhofsruhe werden.

So wenig die Europäer im Jahr 1900 ahnten, was 1916 Europa bestimmen würde, so ähnlich scheint sich unsere Welt in den letzten 15 Jahren verwandelt zu haben. Szenarien, die als Dystopien, als überzeichnete Warnungen oder auch als „nicht hilfreich“ galten, wenn sie dem Zeitgeist nicht nützlich waren, scheinen sich zu bewahrheiten. Selbst das letzte Buch von Houellebecq – „Unterwerfung“ – galt den selbsternannten Hyperintellektuellen des Feuilletons als merkwürdige Phantasie.

Und das, obwohl noch am Erscheinungstag französische Karikaturisten und Juden von Anhängern der Religion des Friedens ermordet wurden.

Aber weder die Anschläge im Januar, noch die Anschläge im November überzeugen die Eliten davon, dass ein Großteil der Politik, der Medien und auch anderer Institutionen einem Wahn verfallen sind. Jedes Attentat, jeder neue Stolperstein im Konstrukt der Ideologie wird stattdessen umso deutlicher bekämpft, da es Wasser auf den Mühlen der Falschen, der Bösen und Schlechtmenschen sein könnte. Allein: immer mehr Kinder heben die Hand und zeigen auf den nackten Kaiser. Der wehrt sich noch, indem er den Kindern von seinen Gardisten Backpfeifen erteilen lässt.

Doch wen die Götter vernichten wollen, den strafen sie mit Blindheit. In diesem Fall muss den Herrschenden und Mächtigen ein Fanal bevorstehen.

Während hierzulande um Details im Mindestlohn für Flüchtlinge und Nachzugsrechte debattiert wurde, hält der Völkermord an der Pforte Europas an. Es ist ein Völkermord des Islams an den morgenländischen Christen; an den Jesiden; an den Kurden. Das muss man ganz offen sagen. Und ich sage ganz bewusst „Islam“. Denn: es ist die islamistische AKP Erdogans, welche den IS seit Jahren unterstützt und die Kurden bekämpft; es ist Saudi-Arabien, dessen Herrscher sich als „Hüter der Heiligen Stätten“ sehen und den IS und andere dschihadistische Gruppen bezahlen, die Frauen vergewaltigen und versklaven, Kirchen und ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen, Häuser von Jesiden und Christen kennzeichnen und deren Bewohner „verschwinden“ lassen. Das Christentum wird nun, nach 2.000 Jahren, da es bereits so viele Jahrhunderte der Unterdrückung überlebt hat, endgültig in seiner Heimat ausgelöscht. Seit dem Völkermord an den Armeniern sind wohl nicht mehr so viele Christen in dieser Region abgeschlachtet worden.

Und wieder hat die Türkei erheblichen Anteil an diesem Verbrechen, da sie den Tätern aus machtpolitischen Motiven half und hilft. Dennoch hat Frau Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, eine Pastorentochter – nichts Besseres zu tun, als sich dem Sultan von Ankara anzubiedern, und von „europäisch-türkischen“ Lösungen zu sprechen. So, als sei die Türkei Mitglied der EU, oder gar Teil Europas.

Russland dagegen wird nunmehr sogar als Grund für die Migrationskrise angeklagt. Russland, das im Nahen Osten aus ebenso machtpolitischen Erwägungen seine Interessen durchsetzt, wie alle anderen Großmächte auch. Logisch jedoch, dass die Christen vor Ort die Russen als Schutzmacht ansehen. Russland hat endgültig wieder auf seinen alten, kaiserlich-imperialistisch-orthodoxen Weg gefunden. Es geht wieder den Weg von Byzanz. Und wer sich nur rudimentär mit der russischen Geschichte auskennt, weiß, dass es niemals Frieden zwischen der Türkei und Russland gab, solange beide Großmächte waren oder sich dafür hielten. Eine alte Kontinuität ist zurückgekehrt, die nicht nur mit den strategischen Erwägungen von Öl, Häfen, Militärbasen, strategischen Gebirgszügen und Hegemonialbestrebungen zusammenhängen; nein, hier geschieht etwas Mythisches, etwas sehr Tiefes; nämlich die Rückkehr des russischen Bewusstseins zu sich selbst, das sich insgeheim immer als Erbe Konstantinopels gesehen hat.

Letztes Mal, als Russland mit dieser Gesinnung Weltpolitik betrieb, führte das zum Krimkrieg.

Erscheint es nicht seltsam, ja, ein groteskes Spiel der Weltgeschichte, wenn andererseits Merkel als Mutter Teresas Wiedergängerin nicht etwa den Christen – sondern vornehmlich jungen, muslimischen Männern zur Hilfe kommt? Man glaubt sich in völliger Groteske, wenn insbesondere Jungs zwischen 20 und 30 als Heilsbringer angesehen werden, aber die eigenen jungen Männer dieses Alters in Europa die größten Verlierer unserer Zeit sind. Das kinderlose Europa breitet seine Arme für kulturfremde und religionsfremde Analphabeten aus, während hierzulande junge Männer mit Hochschulabschluss das Land verlassen oder perspektivlos und unterfinanziert nicht einmal in der Lage sind, eine Familie zu gründen.

Wie gerecht ist es bitteschön, Wildfremde aus „Nächstenliebe“ anzunehmen, aber die eigenen Nächsten, nämlich „unsere Kinder“ völlig zu vernachlässigen? Wie kann es sein, dass Obdachlose auf den Straßen lungern müssen, wohingegen Migranten eine Wohnung bekommen, weil man es ihnen nicht zumuten kann, ins Obdachlosenheim zu gehen? In Südeuropa mit zweistelliger Arbeitslosenzahl ist das Problem noch deutlicher.

Der um sich greifende Materialismus – auch in der Kirche – wird damit offensichtlicher denn je. Denn arm ist auch „unsere“ Generation. Arm im Geistigen. Statt aber dass die Kirche diese einmalige Situation ergreift, um in der Zeit des Wandels wieder die Werte der Familie und des Glaubens hochzuhalten, verirrt sie sich darin, das Christentum nur noch karitativ zu verstehen. Ich weiß, dass ich mich damit weit aus dem Fenster lehne, gerade im Jahr der Barmherzigkeit; mir bleibt es jedoch weiterhin ein Rätsel, wie man über das ganze Helfen Gott selbst vergessen kann. Oder anders gefragt: war nicht einmal die Verbreitung des christlichen Glaubens auch so eine wichtige Sache? Wäre es da nicht angebracht, erst einmal den Brüdern in Christo zu helfen – und die de jure Getauften auch zu faktisch Getauften zu machen? Oder glaubt man tatsächlich, dass 1 Million muslimischer junger Männer für eine Religion empfänglich sind, die in der eigenen Heimat als verächtlich, ja, sogar als verfolgenswert angesehen wird?

Ist eigentlich Frau Merkel klar, dass im Islam Glaubensabfall mit dem Tode zu bestrafen ist?

Die Migrationskrise ist die Offenbarung der europäischen Schwäche. In seinem Leben aus Gedankenlosigkeit, Relativismus und besinnungsloser Kopulation ohne Kindersegen hat der Kontinent von Dante, Beethoven und Shakespeare seine Schaffenskraft und seine einst weltprägende kulturelle Kraft eingebüßt. Der Sinn für das Wesentliche spielt in einer Gesellschaft, die sich mit Antidiskriminierungsgesetzen, Genderstudies und Energiewende befasst, kaum eine Rolle. Deutschland und weite Teile Europas hat eine neue Religion ergriffen, deren Windkraftwerke als postmoderne Glockentürme des neuen Heils tagtäglich im Wind rotieren (oder eben auch nicht). Ihre Priester treten in Akademien und Plenarsälen auf, um die Botschaft von Buntheit, Individualismus, Agnostizismus und 60 Geschlechtern zu verbreiten. Die Inquisitoren nehmen Ketzer im gedruckten Blatt und in Talkshows ins Visier. Der Flüchtlingsstrom ist daher nicht Problem, sondern Verheißung. Der Christ ersehnt zwar das Paradies, er fürchtet aber die Apokalypse. Für die neuen Gläubigen dagegen erscheint der völkerwanderungshafte Migrationsstrom als Katharsis, als „Reinigung“ in dem Sinne, dass nun das multikulturelle Paradies anbricht. Ein merkwürdiger Gedanke, wenn man bedenkt, dass Brasilien seit über 200 Jahren eine überaus heterogene Gesellschaft darstellt, die Zustände aber dort aufgrund der ethnischen Unruhen alles andere als paradiesisch sind.

Es gibt zudem einen entscheidenden Unterschied zur Völkerwanderung: ein nicht geringer Teil der germanischen Führungselite bestand dazumal aus Christen. Arianer zwar, aber eben keine Muslime, und damit wesentlich näher in ihrer kulturellen Verflechtung.

Viele Europäer, die von Anfang an dem „Sommerereignis“ skeptisch gegenüberstanden, spürten instinktiv, dass die Umstände tatsächlich apokalyptische Nuancen haben. Die zumindest theoretische Möglichkeit eines 3. Weltkrieges durch den NATO-Bündnisfall Türkei ist nicht nur endzeitliche Angstmacherei; selbst Papst Franziskus und Patriarch Kyrill erwähnten diese Möglichkeit in ihrer gemeinsamen Erklärung auf Kuba. „Mit brennender Sorge“, wie man in Gedanken hinzusetzen könnte. Auch das ist so typisch für diese „historische Zeit“ in der wir leben. Vor unseren Augen spielt sich die größte Annäherung der Kirchengeschichte ab, man mag ein Zeichen Gottes selbst darin erkennen; und unsere Medien und viele andere können daran nichts anderes sehen, als einen Schachzug Putins. Dabei war die Verzahnung zwischen Staat und Kirche schon zu Byzanz‘ Zeiten so eng, dass es mit ein Trennungsgrund zwischen Rom und Konstantinopel war. Seit Johannes Paul II. bemüht sich die katholische Welt um dieses Ereignis, und jetzt, da es geschah, widmet man sich wieder einmal nur dem politischen Klein-Klein.

Auch hier: die großen Linien, der Sinn, das Leben, der Mythos und die Großartigkeit des Seins verschwinden in Relativismus, Dekonstruktion und Nihilismus. Eine Geisteshaltung, die in den 60er Jahren aus dem Schoß der Frankfurter Schule kroch, die das Leben nicht nahm, wie es war, sondern es dekonstruierte; ohne freilich zu verstehen, dass nur Lebendiges, Organisches, kurz: Seiendes auch sein kann und nicht etwas Konstruiertes. Das ist das große Problem unserer intellektuellen Elite: sie dekonstruiert, zweifelt, reißt ein und zerstört, ohne etwas Gleichwertiges hinzusetzen. Alle „-ismen“ dieser Denkschule sind letztendlich nur „gegen etwas“ und nie für etwas. Diesen Ideologien ist allen gemein, dass ihre Ideale reine Utopien sind. Utopia ist ein Ort, den es nicht gibt, nie gegeben hat; die Theorie, das „sein können“, ist diesen Menschen wichtiger als das Sein per se.

Dieses Leben im „sein können“ statt im „Sein“ ist für viele Menschen der letzte Rettungsanker vor dem kompletten Verlust des Glaubens an irgendein Leben. Europa hat die Nation verloren, es hat die Familie verloren, es hat Gott verloren; es bleibt nur noch die Verheißung paradiesischer Umstände als Heilformeln, eines „wir werden alle Freunde“ als Höchstform der Humanität. Dieses „zueinander nett sein“ ist die letzte moralische Grundformel, auf die sich die Gesellschaft noch irgendwie einigen kann, und wer nicht zueinander nett ist, ist ein Außenseiter, den man mit vielen nicht-netten Worten bewirft. Ein Tipp: eines davon endet auf –azi.

Oder um es politisch auf die Spitze zu treiben: alle sind gegen die AfD, weil sie an die Macht kommen könnte. Mir liegt es viel schwerer im Bauch, wer an der Macht ist, weil Rechtsbruch geschieht.

Das Grundgesetz wird mit Füßen getreten. Die Bundeskanzlerin setzt Edikte durch, und verweist auf ihre Richtlinienkompetenz – obwohl es sich bei dieser verfassungsgemäß nur um ein „primus inter pares“ bei Ministerbesprechungen handelt, aber um keine Kompetenz von Notstandsgesetzen. Deutschland führt in Syrien völkerrechtswidrig* Krieg, abgesegnet von einem Bundestag, der mehrheitlich nicht einmal weiß, um was es geht. Die echten Feinde der Demokratie sitzen woanders, wie Theodred schon hinreichend darstellte.

Viele halten in dieser Konfrontation daher immer fanatischer am „Westen“, an der EU und an der „Aufklärung“ fest. Diese Tendenzen lassen sich selbst in von mir geschätzten Blättern immer wieder finden. Dabei ist die Aufklärung in ihrer extremsten Form ja eben nicht Rettung, sondern Auslöser des heutigen Zeitgeistes. Sie ist eine zutiefst europäische Angelegenheit, die auch nur in Europa funktionieren kann, da sie eine christliche Wertordnung als Ausgangspunkt voraussetzte. Daher erweist sie sich im globalen Wettbewerb als so schwach. Die Orientierungslosigkeit, die durch den Wegfall des Glaubens an Gott im 19. Jahrhundert offenbar wurde, füllte der Glauben an die Nation. Dieser Mythos fand sein Ende in den beiden Weltkriegen. Seitdem scheint nichts mehr nachgekommen zu sein, was die Menschen hat wirklich ausfüllen können. Die Menschen glauben, Gott getötet zu haben, finden aber letztendlich immer noch keinen Ersatz für das Original. Selbst der Glaube an die Vernunft hat sich als Trugschluss erwiesen – wofür die Französische Revolution, jener Kulminationspunkt der Aufklärung, selbst das beste Beispiel mit all seinen barbarischen Auswüchsen war.

Um daher zweimal Peter Scholl-Latour zu bemühen:

„Das Böse steckt tief im Menschen. Wir leben in einem darwinistisch denkenden Zeitalter. Eine Religion oder Weltanschauung, die davon ausgeht, dass der Mensch von Natur aus gut sei, muss scheitern.“

Und:

„Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes.“

Zeit meines Lebens bemühe ich Malraux – so, wie es auch Scholl-Latour immer wieder tat. Dieses Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein. Wer denkt, dass die Religion nicht zurückkehrt, muss blind sein; der ist schon völlig im liberalistischen Fortschrittswahn gefangen. In Osteuropa, besonders in Polen, hat sich die Religion zuerst in den 80ern Bahn gebrochen, und eine Kettenreaktion in Gang gesetzt; Russland fand in den 90ern zum Glauben zurück; danach war die Islamische Welt am Zug.

Wir leben in historischen Zeiten. Geschichte entsteht aus Handeln und Schicksal. Derzeit überlassen wir der Welt nur letzteres. Europa macht keine Geschichte mehr, es lässt sie nur noch geschehen. Die Wenigen werden in Europa die Bleibenden sein. Denn trotz allem – es geschieht nichts ohne Grund. In der Konfrontation mit dem brutalen Fremden werden viele erst wieder einsehen, was das Eigene ausmacht; das Heimische; das Familiäre; das religiöse Sein.

Es wäre vermutlich schöner gewesen, in der Belle Époque oder der alten Bonner Republik zu leben. Aber wir haben Anteil an etwas Großem, etwas Unbekanntem, vermutlich Schrecklichem. Da grollt etwas weit unten in der Tiefe; und wir wissen nicht, was uns erwartet. Furcht, Hass und Resignation darf den letzten Europäern nicht anstehen; weil wir glauben, weil wir lieben, weil wir hoffen; weil uns nichts egal, nichts „relativ“ ist; weil wir nicht gegen, sondern für etwas sind.

Wir, die wir nichts dafür können, wo wir stehen, sollten daher erst recht mit Beherztheit diesen Zeiten entgegensehen, weil wir dadurch endlich erkennen, wer wir wirklich sind.

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* Völkerrechtswidrig ist der Einsatz im Übrigen, da das russische Eingreifen zumindest von der immer noch rechtmäßigen Regierung Syriens herbeigerufen wurde. Man kann von Assad denken, was man will, aber die Sache ist außenpolitisch gesehen wasserdicht. Der „Westen“ dagegen bombardiert einfach fremdes Territorium, weil es Assad nicht anerkennt. Hatten wir alles schon einmal.

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