In Venedig selbst hatten sich die Ereignisse derweil ebenso überschlagen. Während die Revolte in Verona noch im vollen Gange gewesen war, hatte eine französische Fregatte, die Libérateur d’Italie (Die Befreierin Italiens!) Kurs auf die venezianische Lagune genommen. Getreu der von der Republik verabschiedeten Verordnung, dass kein bewaffnetes Schiff einfahren dürfe, eröffnete die Besatzung der Festung Sant’Andrea das Feuer – und versenkte die Fregatte. Der Vorfall ereignete sich am 20. April.
Napoleon tobte daraufhin. Einerseits befanden sich Verona und große Teile des brescianischen Umlandes im offenen Aufruhr, andererseits goss die Zerstörung des Schiffes – zusammen mit dem Tod des Kapitäns – neues Öl ins Feuer. Am 25. April verkündete Napoleon in Graz:
»Ich will keine Inquisition, ich will keinen Senat mehr! Ich werde der Attila für Venedig sein!«
Napoleon warf Venedig Verrat, die Unterstützung der Aufständischen und die mutwillige Zerstörung der Libérateur vor. Zudem habe Venedig bewusst seine großzügigen Allianzangebote abgewiesen. Dass die gesamte Ereigniskette erst in Gang gekommen war, weil Frankreich ständig jedwedes Recht mit Füßen trat, spielte keine Rolle – und Napoleon war das natürlich bewusst. Es ging allein um den Schein des Kriegsgrundes, denn sowohl den Aufstand in Verona wie auch die Zerstörung der Fregatte hatte er wohl wissend in Kauf genommen, um einen casus belli zu gewinnen. Venedig sollte aufgeteilt werden, das war schon Monate vor all diesen Ereignissen beschlossene Sache gewesen.
Die einzigen, die davon wohl nichts wussten – oder besser: die es nicht wahrhaben wollten – waren die Senatoren. Statt nach all den Vorfällen – dem unerlaubten Durchmarsch feindlicher Truppen, der Besetzung der eigenen Festungen, den initiierten „Demokratisierungen“ Bergamo und Brescias, dem Aufstand in Verona und dem feindliche Manöver der Libérateur – endlich die Konsequenzen zu ziehen, dachte man, durch weitere Konzessionen Napoleon gewinnen zu können. Die Republik ging so weit, die eigene Besatzung von Sant’Andrea vor Gericht zu stellen, obwohl diese ihre ureigene Pflicht erfüllt hatte. Zudem versprach die Republik „Demokratiesierungsbemühungen“.
Für Napoleon konnte das nur heißen: Aufgabe der Selbstbestimmung und Unterordnung unter Frankreich. Einen Tag später, am 2. Mai, erklärte Napoleon trotz Erfüllung seines Ultimatums Venedig den Krieg, um dessen „Staatsform zu ändern“. Da war sie wieder, die französische „Großherzigkeit“, welche die befreiten Bergamasken und Brescianer zuerst kennengelernt, und die Veroneser so gehasst hatten.
Am 8. Mai erklärte sich der Doge Lodovico Manin dazu bereit, seine Insignien abzugeben. Der Dogenberater Francesco Pesaro erhob heftigen Einspruch: die venezianische Flotte gehörte immer noch zu den mächtigsten Europas. Die Terraferma sei verloren, aber die Lagune, Istrien und Dalmatien könnten so weiter gesichert werden – aus Sicherheitsgründen solle der Doge nach Zara (Zadar) auf die andere Seite der Adria fliehen. Die Festungen Venedigs – der Vorfall bei Sant’Andrea hatte das gezeigt – seien immer noch in gutem Zustand, um die Hauptstadt zu verteidigen. Pesaro war einer jener Männer, die im Angesicht der Niederlage und den Rückzug auf die eigene Insel eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede gehalten hätten: Wir werden kämpfen bis zum Ende. Wir werden in Treviso kämpfen, wir werden in der Adria und in der Lagune kämpfen. Wir werden unsere Insel verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag. Wir werden uns nie ergeben! Frei nach Churchill.
Daraufhin wurde Francesco Pesaro, neben dem Dogen nach venezianischer Verfassung einer der mächtigsten Männer des Staates, gefangen genommen und in den Kerker geworfen. Man wollte es sich schließlich nicht mit Napoleon verscherzen.
Die Schiavoni, die Leibgarde des Dogen aus Dalmatien, wurde ebenso aufgelöst wie andere militärische Einheiten, die Widerstand hätten leisten können. Man fürchtete eine Revolte, die weiteren Ärger bedeutet hätte. Einen Tag vor der Abdankung des Dogen äußerte dieser nach dem Abendessen:
»Diese Nacht sind wir nicht einmal in unserem eigenen Bett sicher.«
Am 12. Mai kam es zur Abstimmung im Großen Rat. Wie auch bei der späteren Abdankung Kaiser Franz II., der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 9 Jahre später auflösen sollte, war der Vorgang nicht verfassungsgemäß. Bei der letzten Versammlung des Großen Rates von Venedig war nicht einmal die Mindestanzahl an Patriziern anwesend, um einen rechtmäßigen Beschluss zu fassen, die Sitze blieben zu zwei Dritteln leer. Lodovico Manin hielt als letzter Doge eine Abdankungsrede am Balkon. Dem Volk verkündete er, dass die Franzosen andererseits Feuer und Eisen brächten, die Venedig zerstören würden. Nach der Abdankung übergab Manin die Herrschaft an einige Vertreter der jakobinischen Sympathisanten in Venedig, welche den Gonfalon auf der Piazza San Marco einholten.
Noch am Nachmittag rottete sich ein Mob zusammen, der den Gonfalon erneut hisste. Die Häuser der Jakobiner wurden belagert und mit Steinen beworfen. Man forderte die Wiedereinsetzung des Dogen unter lauten „Viva San Marco! Viva la Reppublica!“-Rufen. Die von der Elite befürchtete Volksrevolte drohte nun auszubrechen – und wurde noch am selben Tag von Kanonenfeuer der neuen Regierung erstickt.
Ein Grund, warum es sich anbietet, den Untergang Venedigs nicht auf den 12., sondern eher den 13. Mai zu datieren, ist das Vakuum an diesen beiden Tagen. Noch am 13. Mai erließ die neue Regierung ihre Gesetze mit dem Markuswappen und dem Titel „Serenissimo Principe“, obwohl es weder Serenissima noch Dogen gab. Die Dekrete desselben Tages konnten jedoch nicht höhnischer ausfallen: Widerstand gegen die neue Staatsgewalt wurde mit dem Tode bedroht. Die Plünderer und Störenfriede des gestrigen Tages hätten sich zu stellen, denn schließlich seien die bedrängten Jakobiner „wohlverdiente“ (benemeriti) Leute, die sich nur um das Wohl des Staates kümmerten. Die Drohungen mussten herhalten, da erst am 14. Mai die Franzosen auf dem Markusplatz erschienen, und damit der Serenissima de facto ein Ende setzten.
Mit den französischen Unterstützungskräften proklamierte die neue Regierung eine Meldung, welche die Ideale der Aufklärung und Revolution postulierte. Darin war unter anderem zu lesen:
»Die venetische Regierung versucht, das System der Republik auf einer neuen Ebene zu perfektionieren. […] Wir sind dabei überzeugt, dass die französische Regierung einzig die Intention besitzt, die Kraft und das Wohl des venetischen Volkes zu fördern, und letzteres sich von nun an im Schicksal mit jenem der anderen, befreiten italienischen Völker bindet; die Regierung verkündet ganz Europa, und insbesondere dem venetischen Volk die freie Reform, welche als notwendig zur Verfassung der Republik angesehen wird. […] Die Nobili haben aus freien Stücken auf ihr Geburtsrecht verzichtet, die Ihnen das Recht zur Verwaltung des Staates zusichert. […] Die letzte Handlung der Nobili, ihre glorreiche Opferung der eigenen Titel, ist ein Zeichen, dass alle Kinder des Vaterlands eines Tages in Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit die Früchte der Demokratie genießen können […].«
Ab dem 22. Juli bedeutete in diesem neuen, freiheitlichen Gebilde, diesem Hort der Demokratie und der Menschenrechte… der Ruf „Viva San Marco!“ die Todesstrafe. Bereits am 4. Juni hatte man den Gonfalon in Fetzen gerissen und zusammen mit dem Libro d’Oro, dem Goldenen Buch, in dem alle Nobili Venedigs aufgelistet waren, in einem großen Feuer verbrannt.
Streng genommen fand aber die eigentliche Beerdigung Venedigs weder am 12., noch am 13. und auch nicht am 14. Mai statt. Bei der Abdankung und Auflösung handelte es sich um eine formale juristische Angelegenheit. Die war zwar – wie schon beschrieben – kaum wasserdicht, aber man hatte etwas in der Hand. Aber nicht nur in den Städten der Terraferma und in Venedig selbst hatte es Widerstand gegeben – schließlich war zum Zeitpunkt der Abdankung Manins noch der gesamte Besitz in der Adria von Istrien über Dalmatien bis Montenegro und den Ionischen Inseln weiterhin venezianisch verwaltet.
Erst am 13. Juni erreichten französische Schiffe (eigentlich: beschlagnahmte venezianische Schiffe) Korfu. Es dauerte bis zum 27. Juni, dass auch hier eine eigene, französisch-revolutionäre Regierung etabliert worden war.
In Dalmatien wehrten sich die lokalen Regierungen und die Bevölkerung gegen die Marionetten in Venedig. Anders, als es die heutige, nationalistische Geschichtsschreibung Kroatiens will, waren die „Schiavoni“ nämlich – ebenso wie in Verona – San Marco ungeheuer treu. In Traù (Togir) plünderte man kurzerhand die Häuser jener, die mit den Franzosen paktierten. In Sebenico (Sibenik) wurde der neu eingesetzte, französische Konsul kurzerhand ermordet. Der Widerstand fand erst mit der Besetzung durch Österreich sein Ende, da die Habsburger nun ihren Anteil am Vorfrieden von Loeben einheimsen wollte. Eine Verschwörung in Venedig wurde von der neuen Regierung mit Terrormaßnahmen bekämpft, die an die dunkelsten Kapitel der Revolutionszeit erinnerten.
Die letzte Stadt, die gegen Jakobiner, Franzosen und Österreicher aushielt, war Perasto in der Bucht von Kotor (heute Montenegro). Erst am 23. August wurde dort der Gonfalon von San Marco in einer Zeremonie und im Beisein von Magistraten und Offizieren zu Grabe getragen, unter Tränen, Küssen und letzten Treueschwüren an San Marco. Diese Grablegung Venedigs fand unter der Leitung des Militärs Giuseppe Viscovich in „illyrico“, also vermutlich einem serbokroatischen Idiom statt.
Seitdem liegt dieser letzte Gonfalon, der als einziger nicht in die Hände der zerstörungswütigen Invasoren geriet, unter dem Altar der dortigen Kirche versteckt – bis zu dem Tag, an dem die Republik wieder erstehen sollte, und die Flagge wieder nach Venedig zurückwandert.