Es muss im Frühjahr 2008 oder 2009 gewesen sein, dass ich einen Freund in Venedig besuchte, der dort als Antiquitätenhändler arbeitet, und bei dem ich mich immer wieder gerne umsehe. Neben seinen hervorragenden Stichen und Büchern, deren Qualität mit nichts zu vergleichen ist, spielte aber für mich immer auch das Gespräch eine große Rolle. Als wir uns kennenlernten, bemerkte er schnell, dass ich über Detailwissen verfügte, das selbst einige Venezianologen vermissen ließen. So konnte ich ein Wappen als das der Caterina Corner identifizieren, was ein damaliges, erstes Gespräch anregte.
Am Ende sollte es ganze vier Stunden dauern. Nur mit Mühe erreichte ich noch meinen Zug zurück nach Desenzano.
Ein Grund für das Interesse, mit diesem Herrn auf gediegene Art in Louis XV.-Sesseln zu parlieren, umgeben von Büchern aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, war jedoch nicht nur das Ambiente oder die zumeist venezianisch-historischen Themen, sondern auch die politische Einstellung des Mannes, der mich bald zum „Ehrenvenezianer“ ernannte. Er war glühender Anhänger der alten Republik, aber eben kein Anhänger der regionalistischen Lega Nord; vielmehr ein Anarchist, ein Einzelkämpfer mit sehr eigenen – manche würden behaupten: verqueren – Ideen. Gerade das machte aber die Unterhaltungen umso interessanter.
Bei eben jenem oben erwähnten Gespräch war auch ein Professor der Universität Ca‘ Foscari zugegen. Das Thema: Der Untergang Venedigs. Der Antiquitätenhändler ließ kein gutes Haar an den Feiglingen von damals. Die Republik sei ohne Grund geopfert worden. Diejenigen, die „Eier in der Hose“ hatten, ließ man fallen oder mundtot machen. Die Elite schaffte das eigene Land ab, während das Volk überall – von Bergamo bis nach Perasto – bereit war, für San Marco zu kämpfen und zu sterben. Natürlich hätte es Verluste gegeben. Mit Sicherheit wäre es eine ganz und gar blutige Episode geworden, mit Guerilla-Szenen und Erschießungen, wie sie Spanien Jahre später erleben sollte. Und Venedig wäre vom Meer bombardiert, die Terraferma verwüstet worden. Dennoch: Venedig war eine Insel. Venedig hatte die Flotte. Und Städte konnte man über See versorgen lassen. Venedig hätte Einbußen hinnehmen müssen, aber die Republik hätte überlebt. Dass man selbst 1848 noch versucht hatte, die Republik von San Marco wiederzubeleben, zeigte, dass die Bindung zu dieser Idee eben nicht tot war.
Der Universitätsprofessor dagegen war ein eher ruhiger, vorsichtiger Mann – eben typischer Akademiker, der gerne differenzierte, meinte „das könne man so nicht sagen“ und gemäßigtere Töne anschlug. Die Situation habe damals den Venezianern kaum eine Wahl gelassen, und die Patrizier hätten im besten Sinne an das Volk gedacht. Eben weil ein Krieg so viel Zerstörung gebracht hätte, und die Niederlage wohl unausweichlich, wäre eine passive Übergabe für alle am schmerzlosesten gewesen. Dass Venedig heute so ein Touristenziel sei, von dem jeder zehre, habe man auch der Entscheidung Lodovico Manins zu verdanken, der es so vor dem Artilleriefeuer beschützt habe. Dass Venedig als Juwel so erhalten geblieben wäre, wie wir es heute sehen, dass es keine tausende Toten gab, dass die Wirtschaft intakt blieb, kurz: dass das Leben der normalen Menschen unangetastet vonstattenging, das war der letzte Dienst der Nobili an Volk und Staat.
Im Nachhinein hätte man glauben können, dass Francesco degli Emilei und Francesco Battaia erneut in Verona über das weitere Vorgehen debattierten, aber stattdessen in diesem Antiquitätenladen saßen. Zugegeben, ich habe damals geschwiegen. Weil das Herz beim Antiquitätenhändler, die Vernunft beim Professor war.
Fassen wir einmal die Ereignisse zusammen, und bemühen den Mann, den man immer zu Rate ziehen sollte, wenn politisch mal wieder alles danebengegangen ist, was danebengehen kann: Machiavelli. Das letzte Jahr der Serenissima liest sich so, als hätte Venedig jeden erdenklichen Fehler gemacht, den Machiavelli in seinen Discorsi, den Istorie Fiorentine und im Principe auflistet. Als da wären:
Ein Staat, der nicht in wehrhafter Übung bleibt, kann nicht kämpfen, wenn er zur Schlacht gerufen wird.
Wehrarmeen sind besser als Söldnerarmeen.
Dem Krieg kann man nicht entgehen.
Du kannst einen Krieg, der dir aufgezwungen wird, nicht ausweichen – du wirst ihn nur zu deinem eigenen Nachteil verschieben.
Wenn man einen Krieg führt, dann ganz und total.
Man darf einen Nachbarn nicht zu stark werden lassen oder eine starke Macht in seiner Nähe zulassen, welcher die eigene Macht übertrifft.
Krieg muss aus einem von zwei Gründen geführt werden: um einen Feind zu unterwerfen, oder der eigenen Unterwerfung zu entgehen.
Unschlüssige Staaten gehen zugrunde.
Und das sind nur die Sprüche, die mir auf Anhieb einfallen. Venedig war für Machiavelli schon zu Lebzeiten ein Dorn im Auge, und hatte den Untergang der Serenissima bereits im Krieg der Liga von Cambrai (1508-1510) vorhergesagt. Auch damals hatten Frankreich und Österreich Venedig vernichtend geschlagen, und unter anderem auch Verona erobert – das auch damals, nahezu 300 Jahre vor den Pasque Veronesi, ein Unruheherd war. Wie 1797 sammelten sich in den Dörfern und Städten der Umgebung Freiwillige aus dem Volk, um besetzte Ortschaften zu befreien und den Feind in Geurilla-Aktionen zu schwächen. Als die zermürbten Franzosen die Aufständischen aufgriffen und folterten, sollten diese ihren Verrat gestehen und Mitverschwörer nennen. Die Aussage eines Bauern verwunderte den Gouverneur des besetzten Verona – den Bischof von Trient, der von Kaiser Maximilian eingesetzt worden war – so sehr, dass er ihn folgendermaßen wiedergab:
»E pure disse che era Marchesco, e Marchesco voleva morire, e non voleva vivere altrimenti; né d’altro bene lo posse trarre di questa opinione.«
»Und er sagte, dass er für San Marco sei, und für San Marco wolle er sterben, und anders wolle er nicht leben; und nichts anderes könne ihn von dieser Meinung abbringen.«
“Marchesco” müsste man wortwörtlich mit “marconisch” oder “marcianisch” wiedergeben, das ein Adjektiv zu San Marco bildet. Die Einwohner der Republik Venedig hatten eben nicht das Gefühl, Venezianer zu sein – sie waren weiterhin Brescianer, Veroneser oder Trevisaner. In einem Zeitalter, in dem es angeblich keine Form des Nationalgefühls gab, bildeten „San Marco“ und „marchesco“ jene patriotischen Umschreibungen, welche die Treue zur Republik versinnbildlichten – und für die man auch starb. Das war nicht in allen Regionen Europas selbstverständlich. Vor allem war üblicherweise das „Nationalgefühl“ dort vor allem in der Elite ausgeprägt, die Interesse an einem eigenen Staat hatten, um selbst Einfluss auf diesen zu haben. In der Republik Venedig existierte dagegen bereits seit der Renaissance ein Gefühl für die Verbundenheit mit dem Heiligen Markus, seinem Löwen und der Republik.
Die obige Szene findet dabei bei niemand Geringerem Erwähnung als Niccolò Machiavelli, der darauf schließt: wer so ein Volk besetzen, unterdrücken und beherrschen will, der muss scheitern. Wir erinnern uns an einen der bekanntesten Aussprüche Machiavellis: es sei sicherer, dass ein Fürst gefürchtet als geliebt werde. Was oft bei diesem Zitat vergessen wird, ist die Vorrede Machiavellis, dass die Liebe des Volkes zum Fürsten immer noch effektiver sei als die Furcht; Machiavelli gibt der Furcht nur den Vorzug, weil diese einfacher zu bewerkstelligen und zu erhalten sei.
Am Beispiel der venetischen Landbevölkerung zeigt sich zwar, dass Venedig außenpolitisch fatale Entscheidungen gefällt hatte, aber eben nicht innenpolitisch. Mit Machiavellis Worten: Venedig hatte die Liebe seiner Untertanen gewonnen, die loyal zu dem – aus aufklärerisch-demokratischer Sicht – tyrannischen Inquisitorenregime der Lagunenstadt hielten. 1508 wie 1797. Mit dem Unterschied, dass die venezianische Regierung dieses Potential in der Renaissance abrief, in napoleonischen Zeiten nicht – so, wie Venedig überhaupt nur zuschaute, statt zu handeln. Dass eine Freiwilligenarmee im Verband mit regulären Truppen den Franzosen Niederlagen beibringen konnte, hatten die Vorfälle in Salò und Verona gezeigt. Sie scheiterten aber, weil selbst bei dieser Chance die Regierung weiterhin an der Neutralität festhielt, in der Hoffnung darauf, immer noch einer offenen Konfrontation entgehen zu können.
Das war 1508 anders gewesen. Damals hatte Venedig alle seine Karten ausgespielt – es hatte Gegner aus der feindlichen Koalition ausgebrochen und zu Verbündeten gemacht (so den Kirchenstaat und Frankreich), es hatte ein Heer von 30.000 Mann organisiert, und selbst nach dessen vernichtender Niederlage von Agnadello weiterhin Widerstand geleistet. Freischärler und bewaffnete Bauern errangen tagtäglich Geländegewinne im besetzten Venetien und pinselten den Markuslöwen an die Wände von Kirchen und Häusern. Das war jener militärische und moralische Schub vonseiten der Serenissima, der 1797 gänzlich fehlte.
Es bleibt ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass das revolutionäre Frankreich das venetische Volk von der Tyrannei der Republik „befreien“ wollte, obwohl gerade das Volk der Terraferma, Dalmatiens und Istriens das größte Potential zur Verteidigung des status quo dargestellt hätte. In ihrem gerechten Feldzug für Freiheit und Demokratie wandten die Franzosen dabei sehr vertraute Methoden einer imperialistischen Weltmacht an, welche seine Werte in die Welt exportieren wollte: von außen organisierte Regierungsumstürze; verdeckte Operationen unter falscher Flagge; Unterstützung radikaler Gruppen zur Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen; Einberufung von Parlamenten um das richtige Ergebnis wählen zu lassen; Manipulation von Wahlen; Denunzierung und Verfolgung von Kritikern/Widerständlern; Einmarsch in fremde Länder unter Missachtung jedweder Regeln der internationalen Szene; und das alles zuvorderst mit der wohlmeinenden Großzügigkeit, unterdrückten Völkern die Segnungen des eigenen Regierungssystems zukommen zu lassen.
Dennoch existiert eine unendliche Zahl von Napoleon-Verehrern, die der Überzeugung sind, der Mann hätte den Europäern die „Freiheit“ gebracht.
Das Ende Venedigs ist aber vor allem auf die versagende Elite zurückzuführen. Fähige Männer in der mittleren Ebene der Administration kannten die Probleme, nannten sie und versuchten gegenzusteuern. Doch das Patriziat schien seltsam gelähmt. Aber war es das wirklich? Ein Grund, der ungerne genannt wird: die Nobili Venedigs fürchteten mehr um ihre eigene Pfründe, um ihre Landgüter, um ihre Paläste und ihre Privilegien als um die Integrität des Staates. Statt Napoleon mit vereinten Kräften entgegenzutreten, bereitete man schon den Übergang zum „neuen“ System vor, in dem die Nobili jedoch weiterhin ganz gut leben konnten – nicht zuletzt, als die Österreicher Venetien im Austausch gegen Belgien zugesprochen bekamen. Als nunmehrige Adlige konnten sie ihr Leben fortsetzen. Und gerade in der Oberschicht existierten nicht wenige Sympathisanten für die Aufklärung und jene Werte, die direkt gegen die Republik gerichtet waren.
Ein junger venezianischer Patriot um die zwanzig Jahre, der nach dem Ende Venedigs an einer Verschwörung teilnahm, welche die Wiederbelebung der Serenissima zum Ziel hatte, erinnerte sich in seinem Abschiedsbrief an den eigenen Vater an die widerwärtigste Szene seines Lebens: an einen Senator, der nach der letzten Abstimmung des Großen Rotes auf die Piazza San Marco trat, und sich eine französische Kokarde anheftete. Man war nun Teil einer neuen, großen Sache, welche die befreiten Völker Italiens und ganz Europas in einem neuen System vereinigen sollte. Die eigenen Führungskräfte betrieben den Ausverkauf Venedigs, gegen den Willen der breiten Bevölkerung.
Und auch hier muss man wiederum eingrenzen: die Mehrheit der Nobili war am schicksalsreichen Tag der Abstimmung nicht einmal zugegen gewesen, und Männer wie Nani, Emilei, Maffei, Pesaro und Erizzo hatten allesamt dem Patriziat angehört.
Nüchtern betrachtet war daher Venedigs Schicksal nicht besiegelt. Die Chancen für das Überleben der Republik waren gering, aber sie existierten; mehrmals hatte es Möglichkeiten gegeben, sich anders zu entscheiden, einen anderen Weg einzuschlagen und auszuharren. Venedig hatte in diesem letzten Jahr nur seine schlechten Karten ausgespielt, ohne eine einzige seiner guten zu spielen, als da waren: die Marine, die prallen Staatskassen (Söldner!), die Zustimmung im Volk, die Möglichkeit eines langen, zermürbenden Krieges, und die Strategie von Allianzwechseln wie im Krieg der Liga von Cambrai.
Der einzige mögliche Bündnispartner gegen Napoleon hätte dabei nicht Österreich sein können. Dafür hätte Venedig mit seinen Truppen bereits beim Einmarsch Napoleons die sardischen und österreichischen Truppen verstärken müssen; das hätte aber Anfang 1796 zu absurd geklungen, um überhaupt in Erwägung zu kommen. Ab dem Mai 1796, als Franzosen und Österreicher im eigenen Land kämpften, wäre die zweite Möglichkeit gewesen, doch auch hier zeigte sich bereits, dass Napoleon überlegen war. Hätten venezianische Verstärkungen etwas ändern können? Fraglich. Andererseits: hatten die Pasque Veronesi nicht gezeigt, dass dort die österreichischen Soldaten nur zu gerne mit den Venezianern gegen Napoleon kämpften, wenn man sie nicht abberufen hätte?
Hätte reines Aushalten Sinn ergeben? Das wäre wahrscheinlich gewesen. Schließlich rückten im Zweiten Koalitionskrieg, nur zwei Jahre nach Venedigs Untergang, bereits russische Verbände in die Po-Ebene ein und trieben Napoleon wieder an den Alpenrand. Für eine Republik Venedig, die nur noch aus der adriatischen Küste bestanden hätte, wäre das ein Befreiungsschlag gewesen – und die venezianische Flotte hätte im Mittelmeer die britische Flotte gegen die Mittelmeerexpediton Napoleons unterstützen können. Venedig wäre also durchaus ein interessanter Alliierter für die antinapoleonischen Kräfte gewesen. Hätte, wäre wenn – alles kontrafaktische Überlegungen.
Dafür hätte es nämlich mehr Männer vom Schlage Emileis bedurft, die den Mut besaßen, Risiken einzugehen, unbequeme Entscheidungen zu treffen und eher mit, statt gegen die Bedürfnisse des Volkes zu agieren. Die nicht nur in kleinen Schritten dachten, und Probleme durch Aussitzen und Aufschieben als erledigt sahen – und sogar gegen die eigenen Leute vorgingen, wenn diese auf die Probleme im Land hinwiesen. Nichts ist demotivierender als ein Staat, der sich selbst aufgibt, weil die Eliten ihre persönlichen Verluste mehr fürchten als den Verlust des Ganzen.
Man sollte daher sehr vorsichtig sein, wenn man vom Untergang einer alten, morschen Republik spricht, die sich selbst den Todesstoß gegeben hätte – nicht zuletzt, weil einige Kriterien in erschreckender Weise auf aktuelle politische Gebilde zutreffen.