Die Vorkommnisse in Bergamo und Brescia war den gefürchteten Staatsinquisitoren in der Hauptstadt nicht entgangen. Man sendete an den Senat ein Gutachten, wie es mit der Treue der verschiedenen „Nationen“ – so nannten die Venezianer die Gebiete der Republik mit abgrenzbaren Dialekten, Sitten und Bräuchen – zur Serenissima stünde. Bergamo befände sich im revolutionären Aufruhr, das gälte aber nicht für die Täler und kleineren Orte; Crema verlangte militärische Unterstützung; und Verona, das noch nicht „demokratisiert“ war, aber wo bereits seit einem Jahr die Franzosen eine Garnison stationierten, sei extrem franzosenfeindlich gestimmt. Die einzige Stadt, die von sich heraus und ohne fremde Hilfe als „gefährlich“ eingestuft wurde, war die Universitätsstadt Padua. Gelehrte und Studenten hätten sich bereits nach Bergamo und Brescia begeben.
Wieder einmal konnte sich der Senat nicht zu einer geschlossenen Politik durchringen. Einerseits wollte man Verona befestigen und verteidigen, wieder stand die Mobilisierung der Flotte auf dem Plan, sowie die Aushebung der Milizen. Andererseits wollte sich die Republik durch Schutzzahlungen freikaufen: am 1. April versprach die Serenissima Napoleon eine monatliche Zahlung von einer Million Lire.
In der Provinz dagegen regte sich massiver Widerstand. In Salò, das die Franzosen nach heftigem Kanonenbeschuss eingenommen hatten, brach eine Revolte aus. Die Salodianer vertrieben die Franzosen und hissten erneut den Gonfalon mit dem Markuslöwen. Auch im umliegenden Land der „Riviera di Salo“, der sog. Magnifica Patria, sammelten sich die Bewohner der Orte Bedizzole, Calcinato, Maderno, Toscolano und Vobarno – kurz, die gesamte linke Seite des Gardasees bis zu den Toren Brescias. Lokalmilizen und kleinere Kavallerieeinheiten führten Guerilla-Angriffe aus oder versperrten die Straßen zum aufrührerischen Salò. Napoleons Dragoner wurden blockiert. Weitere Städte und Dörfer schüttelten die jakobinische Herrschaft wieder ab. Die Kampfparole „Viva San Marco!“ war lauter denn je zu hören, und in Ermangelung regulärer Truppen strickte man sich eigene Flaggen mit dem Markuslöwen als Zeichen gegen den französischen Giganten.
In Verona trafen indessen Ottolini aus Bergamo und Battaia aus Brescia ein. Zusammen mit den hiesigen militärischen Führern beriet man die Lage – unter ihnen befanden sich auch der Ratsherr Francesco Emilei und der General Antonio Maffei. Letztere beiden bildeten zusammen mit Ottolini die Fraktion der „Hardliner“ im Rat der Würdenträger. Ihnen entgegengerichtet war die Opposition um Battaia, der keine Einmischung riskieren wollte. Insbesondere Emilei machte sich aber für Vergeltung stark: die Franzosen müssten aus der Stadt geworfen werden, bevor es als nächstes Opfer an die Jakobiner falle und danach Brescia wie Bergamo schnellstens zurückerobert werden! Die Veroneser seien zu diesem Schritt bereit. Francesco Battaia riet dagegen zur Umsicht und wollte nichts überstürzen – worauf Emilei entgegnete, das genau diese Haltung zum Fall Brescias geführt habe. Daraufhin lenkte selbst Battaia ein, der vorher stets gezögert hatte. Die Vorfälle in der venezianischen Lombardei schienen Emilei und Konsorten Recht zu geben, dass die französische Herrschaft brüchiger war als gedacht.
Am 17. April kam es dann zu jenem Aufstand in Verona, der als „Pasque Veronesi“ (Veronesische Ostern) in die Geschichte einging. Es handelte sich um einen der größten Volksaufstände gegen die napoleonische bzw. jakobinische Herrschaft im Zuge der Koalitionskriege, und ist in einer Riege mit dem Freiheitskampf Andreas Hofers und dem Spanischen Widerstand zu sehen.
Dabei übernahm ausgerechnet Francesco Battaia die offizielle Führung über ein zusammengewürfeltes Heer aus regulären venezianischen Truppen, dalmatinischen und istrischen Infanteristen, Freiwilligen aus dem Umland, Veroneser Bürgern und verbündeten Truppen aus dem Gebiet zwischen Gardasees und Vicenza. Zum Trotz gegen die französischen Revolutionäre mit ihren blau-weiß-roten Kokarden hefteten sich die Veroneser blau-gelbe Kokarden an Revers oder Dreispitz, welche die Stadtfarben Veronas symbolisierten.
An die Besatzungstruppen verfasste Augusto Verità – der zusammen mit Emilei als neues Stadtoberhaupt fungierte – einen Brief, sich aus Verona, dem veronesischen Territorium und der venezianischen Lombardei zurückzuziehen. Die Veronesische Nation habe gesprochen. Man brauche die „Errungenschaften“ der Franzosen nicht. Man sei völlig glücklich unter der väterlichen und liebevollen Regierung Venedigs. Es bleibe nichts anderes übrig, als der „Großherzigkeit der französischen Nation“ anzuraten, dass man sich zurückziehe, da deren Anwesenheit nur auf reiner Gewalt beruhe.
In unsere Worte übersetzt: lasst uns zufrieden und macht euren Dreck allein! Uns geht es prächtig unter unserer ach so tyrannischen Republik, die uns angeblich keine Freiheiten lässt! Schert euch zum Teufel und kommt nie wieder – und steckt euch eure Demokratie, Menschenrechte und all den anderen Kram, an dem ihr uns aus eurer „großen Güte“ Anteil haben lasst… sonst wo hin!
Allerdings ging der Aufstand nicht nur von den Veronesern allein aus. Der 17. April war zugleich der Tag des Vorfriedens von Loeben. Neben den allgemeinen Friedensartikeln zwischen Österreich und Frankreich beinhaltete der Vertrag auch „geheime“ Artikel. Darin sprach der Kaiser Napoleon die Kontrolle über die österreichische Niederlande und das linke Rheinufer zu – im Austausch gegen die noch zu erobernden Territorien der Republik Venedig, von denen Frankreich Bergamo und Brescia behalten durfte. Es erscheint logisch, dass diese Gedanken bei Napoleon nicht erst im April gereift waren. Damit war aber auch klar, dass die dauernden Bündnisangebote Napoleons nur eine Finte gewesen waren, um Venedig noch nicht über die wahren Absichten in Kenntnis zu setzen.
In Venedig und Verona wusste man von diesen Vorgängen freilich noch nichts. Stattdessen tauchte im Zuge des Aufstandes ein Manifest Francesco Battaias auf, der darin offen zur Revolte der Veroneser gegen die Franzosen aufrief. Tatsächlich hatten die Plakate die gewollte Wirkung und entfesselten den Volksaufstand – allerdings befand sich der Unterzeichner Battaia zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Venedig, und hatte das Plakat gar nicht unterzeichnen können.
Stattdessen ist heute klar, dass es sich um eine französische Fälschung handelte – die Franzosen wussten bereits aus der rebellischen Lombardei, dass die Einwohner gegen die Franzosenbesatzung waren und spekulierten auf den Ausbruch. Damit hatte Napoleon das rechte Werkzeug um einen Kriegsgrund gegen die Republik zu fabrizieren, so gut sich diese auch auf ihre Neutralität festlegen wollte. Kurzum: es handelte sich um eine „false flag operation“ um den Krieg heraufzubeschwören.
Ohne die Angabe von Gründen provozierten die Franzosen das Geschehen durch die willkürliche Festnahme unschuldiger Bürger oder Soldaten. Vorfälle zwischen Veronesern und den Besatzern nahmen an diesem Tag zu, die Spannung löste sich erst auf, als der Kommandant Balland offiziell das Feuer auf die französischen Quartiere eröffnet. Die französischen Truppen hatten dies genau so berechnet und wollten daraufhin die Stadt offiziell besetzen, in der Annahme, den venezianischen Truppen in jeder Hinsicht überlegen zu sein.
In der Tat: Zuerst attackierten die Franzosen die venezianischen Einheiten, die von der Ordnung und der Planung des Feindes überrumpelt wurden. Womit die Soldaten Napoleons nicht gerechnet hatten, war der Zulauf aus dem Volk. Die Veroneser waren der französischen Besatzung müde, und fügten den feindlichen Truppen überraschend heftige Verluste zu. Mit Handwerks- und Küchenwerkzeugen jedweder Art (italienische Hausfrauen können mit Nudelhölzern mindestens so exzellent umgehen wie gallische) trieben die Aufrührer das französische Regiment zurück in die Quartiere, tote Uniformierte der Italienarmee säumten den Platz vor dem Castel Vecchio. Quellen berichten, dass die venezianischen Truppen beim Anblick dieser Geschehnisse so baff waren, dass sie dem Geschehen völlig desorientiert zusahen.
Francesco Emilei war zu diesem Zeitpunkt im Umland unterwegs, wo er 2.500 Freiwillige angeworben hatte, verstärkt von 600 regulären Soldaten und 4 Kanonen. Kaum hatte er die Notiz gehört, brach er direkt nach Verona auf; die Stadttore und die Stadtmauer standen nämlich weiterhin unter Kontrolle der Franzosen. In einem wagemutigen Manöver ließ er mit den kaum ausgebildeten Männern die Mauer am Tor von San Zeno stürmen und brachte noch am selben Tag die gesamte Außenbefestigung Veronas unter seine Kontrolle. In Verona fand unterdessen eine regelrechte Treibjagd statt, bei der die Aufständler den Feind mit Mistgabeln, Pistolen und Spießen verfolgten. Danach ließ man die österreichischen Gefangenen frei, die sich sofort der Revolte anschlossen und von da an Seite an Seite mit den veronesisch-revolutionären Anti-Revolutionären kämpften.
Beinahe weltfremd mutete am Nachmittag der Vorschlag einiger Vertreter der Elite an, vielleicht jetzt wieder die Neutralität erklären zu können. Für Emilei kam das gar nicht in die Tüte: der wollte sich lieber direkt nach Venedig begeben, die Aushebung des venezianischen Heeres fordern und damit zurück nach Verona marschieren, um den Franzosen zu zeigen, wer die Hosen anhatte. Balland dagegen hisste eine weiße Fahne am höchsten Turm der Stadt, dem Torre die Lamberti, um die Franzosen nicht weiter zu verärgern und Verhandlungen vorzubereiten.
Damit hatten die Vertreter der regierenden Schicht mal wieder den Kontakt zum Volk verloren. Denn die rebellischen Veroneser wollten sich nicht beruhigen lassen; zu lange hatte man unter den Anmaßungen, dem Spott und der Arroganz der Franzosen gelitten, die sich wie die Herren der Welt aufgeführt hatten. Der Ruf „Viva San Marco!“ war an diesem Tag in allen Straßen zu hören. Das venetische Volk war der Idee der Serenissma treuer verbunden als ihre eigenen Vertreter.
Unter diesem Druck machte sich Emilei – der diese Wende erhofft hatte – nach Venedig auf. Die Zivilverwaltung Veronas siedelte stattdessen ins sichere Vicenza über. General Maffei widmete sich der Aushebung und Ausbildung eines „Volksheeres“. Aus dem Umland strömten Bauern und Freiwillige bei, welche dieses verstärkten; denn noch waren nicht alle Stellungen Veronas erobert, insbesondere in der Festung hatten sich diese immer noch verschanzt. Beim Anblick der Männer aus dem Valpolicella äußerte der Stadrat Alberghini:
»In den Gesichtern all dieser Menschen erschien das tiefste Bedürfnis für die Heimat zu sterben und sich für das hinzugeben, was auf dem Spiel stand.«
Sind das Szenen aus dem Endstadium einer dahinsiechenden, alten Republik, wie es das Klischee will? Wenn ein „Historiker“ wie Norwich das Ende von Byzanz preist, das an den Mauern Konstantinopels ruhmreich sein Ende gefunden habe, und als peinliches Gegenbeispiel Venedig nennt, dann ist das hier auf jeden Fall zu revidieren. Zumindest in Verona war Venedig und seine Verbundenheit zu San Marco – dem Schutzpatron, den das einfache Volk so sehr verehrte – lebendiger denn je. Zusammen mit Männern vom Schlage Emileis, Ottolinis, Veritàs und Maffeis die alles aufbieten wollten, um sich den Franzosen entgegenzustellen; und einfachen Männern und Frauen, die ihren Glauben und ihre traditionellen Überzeugungen nicht einer Form von „Modernität“ opfern wollten, die heutzutage prinzipiell als „gut“ gepriesen wird. Wir wissen leider nur viel zu wenig von ihnen, weil untergegangene Staaten heute nicht mehr ihre Märtyrer preisen können.
Wie viel schändlicher Länder sind, die heute existieren, aber ihre Helden schlichtweg vergessen wollen – das will ich hier erst gar nicht breittreten.
Doch bald wurden die veronesischen Reihen geschwächt; eine österreichische Abteilung kam nach Verona, und setzte Maffei über die Vereinbarungen von Loeben in Kenntnis. Die österreichischen Soldaten wurden abgezogen, eine weitere Beteiligung an Aktionen gegen Frankreich untersagt. Der Verlust der kaiserlichen Verstärkung war nur der erste Schlag: im Umland vernichtete ein französisches Entsatzheer eine veronesische Streitmacht. Als sich die Führungsoffiziere trotz der Niederlage dem Volk stellten, rief dieses: »vogliamo la guerra« – wir wollen den Krieg. Die Schlachten innerhalb Veronas gingen weiter, insbesondere gegen das Castel Vecchio von dem aus die französische Artillerie die Innenstadt bombardierte.
Bald schon stand das Entsatzheer der Franzosen mit 6.000 Mann vor den Mauern Veronas. Maffei brachte dagegen eine Truppe von 900 Infanteristen, 250 Reitern und 4.000 Freiwilligen auf. Weitere französische Abteilungen kesselten Verona ein. Obwohl die Stadt eine Übermacht von nunmehr 15.000 Soldaten umringte, versuchte der Nobile Erizzo von Vicenza mit 1.000 istrischen und dalmatinischen Milizionären, sowie 400 Infanteristen zur Verstärkung nach Verona pünktlich einzutreffen.
Am 25. April kapitulierten die Veroneser unter Emilei und Verità – ausgerechnet am Tag des Patrons San Marco. Venedig hatte keinen Finger gekrümmt.
Die Anführer der Verschwörung hatten sich als Geiseln zu stellen: das war die französische Forderung für Waffenstillstandsverhandlungen. Verona musste 2,4 Millionen Lire zahlen (also das 2,4fache der gesamtvenezianischen Schutzzahlungen im April!). Kirchen und Paläste wurden geplündert, Kunstschätze nach Paris verschleppt – darunter die berühmten Sammlungen Maffeis aus der Römerzeit Veronas und Gemälde wie Tizians Maria Assunta. Sämtliche Hoheitszeichen Venedigs – allen voran der geflügelte Löwe – und die Wappen der Patrizier fielen der Zerstörung anheim. Vandalismus gegen öffentliche Einrichtungen gehörte zur Tagesordnung.
Selbst Napoleon war erschrocken über die Zustände in Verona, nachdem er der Stadt einen Besuch abstattete. Noch ein Jahr zuvor hatte er in Verona im Palazzo Emilei übernachtet – eben bei jenem Francesco Emilei, der zum Hauptverschwörer werden sollte, und kurz vor Napoleons Rückkehr hingerichtet wurde.
Im Sommer sollten alle Bewohner Veronas das Recht haben, zum ersten Mal in ihrer Geschichte die eigene Stadtregierung wählen dürfen – die meisten Stimmen erhielten dabei ausnahmslos Männer, die bei den Pasque Veronesi mitgewirkt hatten. Um das zu verhindern, bestimmte der General Augureau 23 der 40 Abgeordneten selbst, damit die richtigen Mehrheiten zustande kamen.
Wo man die Demokratie erst einmal eingeführt hat, ist der Wahlbetrug nicht weit.