Nun ist das Virus halt da. Leider tritt damit auch so ziemlich das ein, was ich bereits bei den Beiträgen über Italien fürchtete: nämlich, dass Deutschland mal wieder von einem Extrem ins nächste fällt. Während die Bilder von Wuhan unleugbar zeigten, dass die Sache diesmal anders als bei SARS, Ebola und Co. ausfallen würde, beschwichtigte insbesondere der ÖRR, es handele sich bei diesen Übertreibungen nur um rechtsextreme Verschwörungstheorien. Kaum ein Experte, der nicht sagte, Deutschland sei hervorragend vorbereitet, das könne nicht hier passieren, und dazu das Totschlagargument von 25.000 Grippe-Toten.
Es war ja auch eine blöde Situation. Habeck und die Grünen setzten Anfang des Jahres noch die Themen, wir sprachen über Verkehrswende, Klimawandel, Greta, „Genderpaygap“ und andere grünen Phantasien, welche eine nicht geringe Anhängerschaft in den etablierten Medien haben. Gesundheitsthemen, Katastrophenschutz, sowie damit einhergehende Maßnahmen wie Grenzkontrollen oder Ausgangssperren – das sind bekannterweise nicht die beliebtesten Themen des Matchagürtels von Prenzlauer Berg oder Connewitz. Schönwetterdemokraten haben das Nachsehen, wenn ein Staat den Notstand ausrufen muss. Allein der Gedanke an autoritäre Beschlüsse weckt Alpträume.
Man darf sich keiner Illusionen hingeben. Auch in Italien verdrängte man das Problem. Es gab „anti-rassistische“ Aktionen, weil man das Misstrauen gegenüber asiatisch aussehenden Menschen für schlimmer hielt als das Virus. Ganz blöd gesagt: umarm einen Chinesen. Das linksextreme Milieu in Italien steht dem in Deutschland in nichts nach, wenn es um irre Ideen geht. Nur die Verbreitung in der Massengesellschaft fällt anders aus. Die Aktion der Regierung Conte, bei den ersten Coronafällen den Notstand auszurufen und die Direktflüge nach China zu kappen, erschien vielen als übertrieben, ja, eben: Panikmache. Was in Wuhan passierte, das konnte schließlich nicht in Italien passieren. Wieso nicht? Ist eben eine Grippe.
Nach dem 23. Februar war die Welt eine andere. Rote Zonen, Hamsterkäufe, stetig steigende Todeszahlen, Stopp des öffentlichen Lebens in Norditalien. Europa schaute zu – und zog keine Schlüsse. Das Robert-Koch-Institut bewertete die Gefahrenlage zuerst als „gering“ in Deutschland und ließ sich viel Zeit, diese auf „mäßig“ zu erhöhen. Ein EU-Land wurde zum Zentrum der Schaulust. Ähnlich wie Italien auf China geblickt hatte, schauten nun die Europäer auf Italien: gut, dass das nicht uns passieren kann. Selbst als es zum „lockdown“ Italiens kam, hielt man in Deutschland Grenzschließungen, Ausgangssperren und Geschäftsschließungen für ausgeschlossen. Gebiete wie Heinsberg, die man in Italien schon längst isoliert hätte, galten als Krisengebiet, auf das man mit einem gewissen Grusel blickte – mehr nicht. Dass sich nicht nur afrikanische und ostasiatische Länder von Deutschland abschotteten, indem Sie Flüge strichen oder auf 14-Tage-Quarantäne von Deutschen beharrten, sondern auch angrenzende Länder wie Polen, Tschechien und Dänemark Grenzkontrollen oder gar Grenzschließungen beschlossen, nahm man indifferent entgegen.
Erst, als die Kanzlerin am vergangenen Mittwoch bzw. Donnerstag die Öffentlichkeit an ihrer Präsenz teilnehmen ließ, änderte sich etwas. Kaum meldete sich die große Mutter, war alles anders. Es war, als wurde die Krise jetzt nur deswegen Krise, weil sie es beschloss. In ihrer großen majestätischen Güte hatte sie uns nach langer Zeit der Entrückung wieder ihre Huld erwiesen, um uns zu sagen, wie die Welt funktioniert. Medien und Politiker an ihrem Rockzipfel änderten ihre Meinung mit einem Schlag. Die Minister für Gesundheit und Bildung hatten Schulschließungen vorher ausgeschlossen; nun waren sie möglich. Grenzkontrollen, die vor Tagen als Dogma deutscher Politik den Ruch rechtsextremer Menschenverachtung in sich trugen, waren ab Sonntag Realität. Die Bundesländer, die sich bis zum Wochenende über das „ob“ von Einschnitten stritten, kamen plötzlich zu einem Ergebnis. Bayern rief den Katastrophenfall aus.
Auch medial war die komplette Wende der Corona-Politik auffällig. Sender, die noch vorher über Corona gespottet hatten, mahnten nun. In mindestens einem Fall wurden die Sünden der Vergangenheit gelöscht. Was bei Polen noch verteufelt wurde, stellte das ZDF bei den deutschen Grenzschließungen als Weitsicht heraus. Während das Gesundheitsministerium noch am Samstag vor „Fake News“ warnte, es würden weitere Einschnitte ins öffentliche Leben folgen, waren dies nur zwei Tage später widerlegt. Der Betrieb wechselte von wochenlanger Indifferenz, Verharmlosung und Beschwichtigung in den kompletten Panikmodus. Das am Montag ausgearbeitete Papier ist ein Werk reinen Aktionismus‘. Frisöre haben offen, Baumärkte auch, Gottesdienste nicht. Und letztlich ist irgendwie alles Ländersache. Plötzlich standen die Flüchtlinge in Wien und Budapest – das hatte ja keiner ahnen können.
Mit einem Mal stand die nackte Kaiserin auf der Bühne. Der panische Aktionismus wäre nicht nötig gewesen, hätte man Anfang März wenigstens erste Vorbereitungen getroffen. Das war vielleicht schon da zu spät – aber es war das erste Zeitfenster, in dem der „italienische Patient“ bereits so krank war, dass man der Öffentlichkeit Einschnitte hätte verkaufen können. Es wurde keinerlei Krisenbewusstsein geschaffen, Deutschland stürzte mal wieder ins kalte Wasser.
Krisenbewusstsein bedeutet übrigens nicht Panik, sondern „Umgehen mit der Krise“ – und das bitte mit Verstand. Wer aus der Italienberichterstattung der letzten Tage „Panikmache“ liest, statt zu wissen, dass bald ähnliche Zustände in Deutschland aufkommen, hat nichts verstanden. Die Medien haben einen großen Anteil daran, dass beispielsweise die völlig normale Praxis der Lebensmitteleindeckung als Sache von „Preppern“ denunziert wurde, die – natürlich – im rechtsextremen Milieu anzusiedeln seien. Wer im Februar von den Zuständen in Italien wusste, konnte sich rechtzeitig vorbereiten, ohne später hamstern zu müssen. Vorbereitung, Information, Kriseneinschätzung: das macht keine Panik, das hilft, die Situation ruhig zu überstehen.
Jetzt, da man sich nicht mehr aus der Ferne an Corona ergötzen kann, setzt sich die Angst durch, dass man selbst irgendwie davon betroffen sein könnte. Oder betroffen sein muss. Es muss mehr dahinter stecken: die Pharma-Industrie, autoritäre Tendenzen oder andere Schuldige. Ohne Frage: ja, einige werden diese Krise nutzen. Wie immer. In Zeiten des Niedergangs gewinnen die Aasgeier. Daraus eine Kausalität spinnen zu wollen, geht aber in eine absurde Richtung. In italienischen Quellen habe ich jedenfalls noch nie so viele mögliche Deutungen dazu gelesen, was „wirklich“ passiert, als das in Deutschland der Fall ist. Wir sind bei der letzten Stufe der Seuchenpsychologie Manzonis angelangt: da wir uns das Unglück nicht erklären können, müssen es Giftmischer, Hexen und Saboteure sein, die hier wirken. Manzoni gilt nicht als Gewährsmann, weil Corona die Pest ist; er gilt als Gewährsmann, weil die menschliche Psychologie dieselbe geblieben ist.
„Im Anfange also keine Pest, durchaus keine, um keinen Preis; nur das Wort auszusprechen ist verpönt; dann pestartiges Fieber; die Vorstellung schleicht sich heimlich durch ein Beiwort ein; dann nicht wirkliche Pest; das heißt freilich Pest, aber in einem gewissen Sinne; nicht eigentlich Pest, aber etwas, für das man keinen andern Namen zu finden weiß; endlich Pest ohne Zweifel und ohne Widerrede. Aber schon hat sich eine andere Vorstellung damit verbunden, die Vorstellung der Giftmischerei und Hexerei, welche die durch das Wort ausgedrückte Vorstellung von der Pest, die sich nicht mehr zurückweisen läßt, verfälscht und verwirrt.“
Da werden immer wieder die 25.000 Grippetoten von 2017/2018 herbeizitiert, obwohl es sich um ein Ausnahmejahr handelt und die sonstigen Jahrgänge wenige hundert verzeichnen – so viele, wie in Italien derzeit täglich sterben. Da wird auf die geringe Todeszahl in Deutschland verwiesen, die nicht zuletzt dadurch zu erklären ist, dass man hierzulande im Gegensatz zu China und Italien nicht post mortem testet. Da wird auf einen Mann wie Wodarg verwiesen, der sich öffentlich blamiert hat, weil er den Hochstapler Postel in seiner Klinik nicht erkannt hat, und jetzt als Gewährsmann der Pharmalobby-Verschwörungstheorie aus dem Hut gezaubert wird – so, als wäre der Zusammenbruch des Gesundheitssystems in der Lombardei reiner Panikmache geschuldet. Dass in Bergamo, Brescia, Cremona, Mailand und anderen Städten Krankenhausberichte vorliegen, die außergewöhnliche Zustände aufweisen, wird ausgeblendet; der Hinweis darauf, dass sich die Leichensäcke in den Krematorien stapeln, weil man mit der Verbrennung nicht mehr nachkommt, gilt dann nur noch als anekdotische Evidenz. Italien hat – aus irgendeinem Grund – eben ganz großes Interesse daran, sich derzeit mit einer Totalblockade selbst zu vernichten, damit man in Deutschland Notstandsgesetze erklären kann. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Stattdessen darf man sich noch als „Panikmacher“ bezeichnen lassen, weil man frühzeitig der Meinung war, lieber ein paar Maßnahmen zu treffen, um nicht auf dieselbe Krise zuzusteuern. Eben um diesen Kollaps aufzuhalten, damit ein „shutdown“ des öffentlichen Lebens vermieden wird. Die Anfeindungen, die sich gegen meine Person richten, die nicht täglich, sondern stündlich erhoben werden – per Mail, Twitter, Facebook – habe ich selbst beim Hanau-Kommentar nicht erlebt. Man riskiert lieber den Kollaps des gesamten Systems aufgrund von Betriebsschließungen und Massenpleiten, statt frühzeitig die Risikogruppen zu schützen. Wir sind sogar an dem Punkt angelangt, dass aufgrund der langen Beschwichtigung die Leute jetzt absolut resistent dafür geworden sind, dass man sein Verhalten ändern muss. Es ist ja Frühling, man muss raus. Dass sich hier die kommunikativ-sozialen Italiener disziplinierter benehmen, weil die Rücksicht gegenüber anderen mehr zählt als die eigene Risikoeinschätzung, wird eines Tages noch das ungeschriebene Buch der Stereotype um ein interessantes Kapitel bereichern.
Wie wenig über Corona tatsächlich nördlich der Alpen bekannt ist, zeigt sich immer wieder an dem Argument, die Todeszahl sei ja nicht so schlimm. Die Todesfälle sind aber erst das zweite Problem. Das Virus ist nicht berüchtigt, weil es tötet; es ist berüchtigt, weil es sich gut verbreitet. Nur ein Bruchteil landet im Krankenhaus. Aber die, die es tun, sind zu viele. Die Lombardei krankt an der Zahl. Die Krankenhäuser können sich schlicht um keine anderen Fälle mehr kümmern. Rettungswagen erreichen ihr Ziel nicht rechtzeitig, man muss auf dem Korridor behandeln. Jeder junge Mensch, der erkrankt – und das tun sie, massenweise – nimmt einem Alten den Platz weg und riskiert dessen Tod. Deshalb ist die Situation jene, die sie ist. Die Triage in Zeiten der Grippe: jeder will daran glauben, wie viel er möchte.
Zurück zu den Maßnahmen. Wenn die Deutschen ihr Verhalten nicht ändern, wird es ihnen ergehen wie den Franzosen. Paris hat über seine Bürger eine Ausgangssperre verhängt, weil die Bevölkerung sich nicht auf die Krise einstellte. Man ging dem Leben nach wie sonst. Daher die Sanktionen. Es ist die Bionadefraktion, die mit ihrem Hedonismus dafür sorgt, dass wir bald alle belangt werden. Dafür braucht es keine Verschwörungstheorie, das ist ein Automatismus. Die Deutschen hätten sich ihre Freiheit erhalten können, hätten sie diese Freiheit zu bewahren gewusst. Jetzt kann der Staat eben machen, was er will, weil seine Bürger sich als verhätschelte Kinder erwiesen haben.
Jammern hilft da nichts. Die nächsten Wochen werden außergewöhnlich. Das „warum“ spielt da kaum noch eine Rolle. Es ist jetzt unabwendbar. Decken Sie sich nicht mit Toilettenpapier, sondern lieber mit Spielen ein. Wenn Sie ihr Haus renovieren oder irgendetwas lackieren wollen – Ihre Zeit ist jetzt da. Mit Sicherheit liegen auch noch die Bücher der letzten vier Weihnachtsbescherungen irgendwo herum. Beschäftigen Sie sich weniger mit der Seuche, als vielmehr mit einigen häuslichen Aktivitäten, die sie zwei bis drei Wochen beschäftigt halten, sodass Koller, Familienstreit und Langeweile den Gedanken ans Rausgehen gar nicht erst nähren.
Andrà tutto bene. Es wird alles gut gehen.