Alles ging den gewöhnlichen Gang, als ob man ihm von nichts gesprochen hätte

18. März 2020
Kategorie: Europa | Fremde Federn | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Non enim sciunt quid faciunt

Im 31. Kapitel der „Promessi sposi“ bricht die Pest in Mailand aus. Alessandro Manzoni hat dieses Kapitel sehr historisch und auf Quellen basiert geschrieben. Vieles davon kommt nicht unbekannt vor. Hier ein dritter Auszug, der allerdings chronologisch zwischen dem zweiten und dritten liegt. Nicht ganz unähnliche Erfahrungen mehren sich derzeit zuhauf.

Auf dem ganzen Strich Landes also, welchen das Heer durchzogen, hatte man in den Häusern und auf den Straßen hin und wieder Leichname gefunden. Bald darauf fingen in diesem und jenem Orte Einzelne wie ganze Familien an, an heftigen, seltsamen Uebeln, deren Kennzeichen den meisten lebenden Menschen unbekannt waren, zu erkranken und zu sterben. Nur Einige waren, die das Uebel schon kannten; die Wenigen nämlich, die sich der Pest erinnern konnten, welche drei und fünfzig Jahre vorher auch einen großen Theil von Italien, vorzüglich das Mailändische verwüstet hatte, wo sie die Pest des heiligen Carlo genannt ward und noch jetzt so genannt wird. So stark ist die Menschenliebe! Sie kann aus so mannigfachen, feierlichen Erinnerungen eines allgemeinen Unglücks vorzugsweise derjenigen eines Mannes gedenken, weil sie diesem Manne Gefühle und Handlungen eingeflößt hat, die noch denkwürdiger als die Leiden selbst sind; sie stellt ihn unter allen jenen Ereignissen als einen Auserwählten hin, weil sie ihn bei allen zum Führer, zum Helfer, zum Vorbild, zum freiwilligen Opfer erkoren hat; sie läßt diesen Mann für das allgemeine Elend dulden und nennt es nach ihm, als wär‘ es eine Eroberung oder Entdeckung.

Der Oberarzt Lodovico Settala, der jene Pest nicht nur gesehen hatte, sondern dabei einer der thätigsten und unerschrockensten, und obgleich damals noch sehr jung, einer der berühmtesten Aerzte gewesen war, und der jetzt in großer Besorgniß vor dieser Pest sehr eifrig nachforschte und Erkundigungen einzog, berichtete am 20. October der Gesundheitsbehörde, daß in dem Dorfe Chiusa – dem letzten in dem Gebiete von Lecco, an der bergamaskischen Grenze – unzweifelhaft die Seuche ausgebrochen sei. Es ward jedoch darauf kein Entschluß gefaßt, wie aus den Berichten des Tadino hervorgeht.

Darauf liefen ähnliche Nachrichten aus Lecco und Bellano ein. Die Gesundheitsbehörde begnügte sich damit, einen Commissar abzuschicken, der unterwegs zu Como einen Arzt nehmen und mit ihm die bezeichneten Ortschaften untersuchen sollte. Beide ließen sich, ob aus Unwissenheit oder sonst einem Grunde, von einem alten, einfältigen Barbier aus Bellano überreden, daß diese Art Uebel keine Pest wäre, sondern an einigen Orten die gewöhnliche Wirkung der herbstlichen Ausdünstungen der Sümpfe, an den übrigen eine Folge des Elends und der Mühseligkeiten, welche sie durch den Durchmarsch der Deutschen er litten hätten. Eine solche Versicherung ward der Gesundheitsbehörde überbracht, welche damit ihr Gewissen beruhigt zu haben schien.

Da aber unaufhörlich Todesnachrichten über Todesnachrichten von verschiedenen Seiten einliefen, so wurden zwei Abgeordnete, worunter der genannte Tadino, abgeschickt, um sich zu überzeugen und Vorkehrungen zu treffen. Als diese ankamen, hatte das Uebel schon dermaßen um sich gegriffen, daß die Beweise, ohne sie erst suchen zu müssen, sich von selbst darboten. Sie durcheilten das Gebiet von Lecco, die Valsassina, die Gestade des Comersee’s, die sogenannten Bezirke von Monte di Brianza und Gera d’Adda und überall fanden sie die Orte beim Eintreten gesperrt oder fast ganz verlassen; die Einwohner waren geflüchtet oder lagen auf den Feldern; »sie sahen aus wie wilde Geschöpfe«, sagt Tadino, »von denen eines Münzkraut, eines Raute, eines Rosmarin, eines ein Fläschchen mit Essig in der Hand hatte«. Sie erkundigten sich nach der Zahl der Gestorbenen: diese war entsetzlich; sie besichtigten Kranke und Leichname und fanden überall die schmutzigen und schrecklichen Zeichen der Pest. Sie theilten sogleich schriftlich diese düstre Kunde der Gesundheitsbehörde mit; diese erhielt sie am 30. October und »schickte sich sogleich an«, sagt Tadino, »Gesundheitspässe vorzuschreiben, um Personen, die aus Gegenden kämen, wo die Seuche schon ausgebrochen, von der Stadt abzuhalten;« und während man die Verordnung abfaßte, gab sie den Zollbeamten vorläufig einige Anweisungen.

Inzwischen trafen die Abgeordneten Hals über Kopf die Vorkehrungen, welche ihnen die besten schienen; mit der traurigen Ueberzeugung, wie unzulänglich diese zur Abhülfe und Aufhaltung eines so vorgerückten und verbreiteten Uebels wären, kehrten sie zurück.

Nachdem sie am 14. November angekommen waren und der Gesundheitsbehörde mündlich und schriftlich Bericht gegeben hatten, erhielten sie von dieser den Auftrag, sich dem Statthalter vorzustellen und ihm die Lage der Dinge zu schildern. Sie gingen hin und kehrten mit der Nachricht zurück, er habe über eine derartige Kunde einen großen Mißmuth empfunden und tiefes Mitgefühl dafür gezeigt; aber die Sorgen des Krieges seien doch drückender: sed belli graviores esse curas. Zwei oder drei Tage darauf, am 18. November, erließ der Statthalter eine Verordnung, worin er öffentliche Freudenbezeigungen wegen der Geburt des Prinzen Carlos, des erstgebornen Sohnes König Philipps IV., anbefahl, ohne die Gefahr eines großen Zusammenströmens unter solchen Umständen zu bedenken oder sich darum zu kümmern; alles ging den gewöhnlichen Gang, als ob man ihm von nichts gesprochen hätte.

Dieser Mann war, wie wir schon gesagt haben, der berühmte Ambrogio Spinola, der ausdrücklich gesandt war, um die Fehler Don Gonzalo’s in der Führung des Krieges wieder gut zu machen und zugleich die Statthalterschaft zu führen. Wir können hier auch beiläufig mitanführen, daß er wenige Monate darauf in demselben Kriege, der ihm so sehr am Herzen lag, starb, und zwar nicht an Wunden auf dem Schlachtfelde, sondern im Bette vor Kummer und Gram über die Vorwürfe, Kränkungen und Unannehmlichkeiten jeder Art, die ihm von dem widerfuhren, dem er diente. Die Geschichte hat sein Schicksal beklagt und die Undankbarkeit des Andern hart getadelt; sie hat mit vielem Fleiße seine kriegerischen und politischen Unternehmungen beschrieben, seine Vorsicht, seine Thätigkeit und seine Ausdauer gelobt; sie hätte auch untersuchen sollen, was er mit allen diesen Eigenschaften gethan hatte, als die Pest eine Bevölkerung bedrohte und überzog, die seiner Fürsorge oder vielmehr seiner Willkür übergeben war.

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