„Venedig sei gemartert worden, Venedig sei in die Knie gegangen, Venedig liege am Boden – Politiker und Journalisten überwerfen sich mit der Einordnung der Katastrophe. Bürgermeister Luigi Brugnaro hat bereits den Klimawandel ins Spiel gebracht. Es entspricht dem Zeitgeist, das Phänomen als neuen, ultimativen Sündenbock darzustellen, nachdem der Heiland am Kreuz zur Vergebung der Sünden nicht mehr ausreicht. Dagegen spricht allerdings, dass Hochwasser in einer Stadt, die nicht nur am, sondern auch auf dem Wasser gebaut ist, keine überraschende Erscheinung ist. Die historisch dokumentierten Hochwasserkatastrophen häuften sich im Übrigen nicht während einer Warmphase, sondern in der Übergangsphase zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit – also zu Beginn der Kleinen Eiszeit. Das dauernde Lamento, dass Venedig sowieso im Wasser versinken würde, war im Übrigen schon im 13. Jahrhundert wenig originell. Der Renaissance-Geschichtsschreiber Daniele Barbaro schildert in seinem Werk den Vorschlag des Dogen Pietro Ziani aus dem Jahr 1222, die Hauptstadt von Venedig nach Konstantinopel zu verlegen. Die Begründung klingt bekannt. Venedig sei langfristig verloren, weil es vom Hochwasser verschlungen würde. 800 Jahre später ist schon manch andere Weltstadt vernichtet worden – Venedig erhebt sich dagegen immer noch aus den Fluten.
Wer wie die Venezianer anderthalb Jahrtausende mit dem Meer ringt, der lernt, mit seiner Umwelt umzugehen. Die Launen der Lagunen sind das Fundament von Macht und Reichtum einer Stadt, wie das Abendland keine andere kennt. Wer heute nur das Hochwasser als Bedrohung sieht, vergisst, dass eben dieses der Ausgangspunkt venezianischer Geschichte ist. Venedigs Aufstieg beginnt in einer Zeit, als das Festland in Verwirrung fällt. Europa kuriert die Folgen der Völkerwanderung aus, da nisten in der Lagune die Flüchtlinge in Häusern wie Vögel in ihren Nestern – so beschrieb es schon der spätantike Historiker Cassiodor im 6. Jahrhundert. Sicher vor der Umwälzung und den Zerstörungen gedeihen hier Salzgewinnung und Handel. Weder Goten, noch Langobarden, noch Franken können die Inseln erobern – auch Friedrich Barbarossa erkennt, dass die Stadt ohne Flotte kaum zu nehmen ist.
Das Wasser ist jahrhundertelang Venedigs Schutz. Bereits im Mittelalter regulierten, erhielten und nutzten die Lagunenbewohner ihr Biotop nachhaltig. Das Wasserbett der Serenissima wäre sonst längst versandet wie die Häfen von Aquileia und Ravenna. Die Republik Venedig leitete nicht nur Flüsse um, sie organisierte mit dem Magistrato delle Acque sogar ein eigenes Gremium für Gewässerangelegenheiten. Die Bedeutung dieser Institution erkennt man daran, dass dem untergeordneten Collegio die mächtigsten Männer der Republik angehörten. Die Institution blieb bis zur napoleonischen Unterwerfung im Jahr 1797 bestehen.“
Berechtigterweise stellt sich die Frage, warum hier nichts zum Hochwasser in Venedig stand. Auch hier war die Tagespost schneller mit der Anfrage und hat mir eine ganze Seite eingeräumt. Online steht der Artikel hier zum Nachlesen: