1. März. Mittag. (1560)
Sand legte die gesamte Città Nuova in Nebel. Der Film bedeckte Dächer und Fenster. Wie ein Tornado wirbelte Dreck um den Obelisken. Ganz Palatina stand auf den Tribünenrängen, wischte sich mit Palio-Tüchern über die Augen, wedelte mit Händen in der Luft, kratzte Staub aus den Haaren, spuckte schleimigen Sand.
Wind. Befreiender Wind. Pferdespeichel flog durch die Luft, mischte sich mit dem Sandsturm, gefolgt von Nüstern und Läufen. Schimmelweißes Langhaar brach sich Bahn. Darauf der feuerrote Umhang der Albizzi, der das Sandmeer teilte, im Galopp eine Schneise schlug – und vom Obelisken in Richtung Città Antica abbog.
»San Paolo hat die Führung übernommen! San Paolo liegt in Führung! Was für ein Palio!«
Arabisches Fluchen mischte sich mit der Stimme des Kommentators auf dem Campanile, der zuerst den Schimmel, dann Lidia, zuletzt den Sprecher beschimpfte. Salims kleiner Hengst schoss zwei Sekunden später aus dem Staub, die Rute zur Waffe erhoben.
In der Südostkurve des Marktplatzes erhob sich der Chor der Metzger, Radmacher und Töpfer von San Paolo, die das Banner ihres Patrons in die Luft streckten, mit trockenen Kehlen und Dreck im Hals gegen den Staub ansangen.
Leonora quittierte den Zeitvertreib des Pöbels mit Fächerschlag. Kein Partikel lag auf ihrer makellos weißen Haut.
»Schaut es Euch genau an, Messer Casanova. Das ist das Wesen der Republik.«
Eracle rieb an Augen und Nasenbein vorbei, richtete den Blick auf die tobende Masse.
»Das sind dieselben Handwerkermeister, die im Rat über das Schicksal der Stadt bestimmen. Männer, die von ihren Emotionen geleitet Entscheidungen treffen«, fuhr die Malpazzi fort. »In einem Staat soll das Haupt regieren. Nicht die Milz oder die Niere. Sie sind Blätter im Wind ihrer eigenen Triebe.«
Der Fächer schlug zusammen. Der Märzwind fuhr durch ihre braunen Locken.
»Da ist keine Größe. Keine Erhabenheit. Nur das Niedrige, das alles herabzieht und erwürgt, was das Mittelmaß übersteigt«, wälzte sich die Bitterkeit von elf Jahrzehnten über ihre Lippen. »Palatina kann sich glücklich schätzen, dass es seine Herzöge erlebt hat.«
»Und Ihr haltet den Sturz der Malpazzi nur für einen Betriebsunfall der Geschichte?«
Ihr Blick richtete sich auf den Casanova. Er sah sie von der Seite an. Prüfte sie. Provozierte sie.
»Ein paar schwarze Schafe«, relativierte Leonora.
»Der Volksmund behauptet, die letzten Herzöge habe eine Geisteskrankheit befallen.«
»Böse Gerüchte.«
»Herzog Lodovico stellte sich beim Karneval 1445 nackt an den Balkon und hielt eine Rede«, erwähnte Eracle beiläufig, führte dann ernster hinzu: »Rückwärts.«
»Er hatte Humor«, beharrte Leonora.
»Galeazzo II. war so paranoid, dass er seinen Schatten hasste und jagte. Seine Wache kommandierte er dazu ab, diesen täglich zu verprügeln.«
»Ein Fürst muss vorsichtig sein, wenn er zu sehr gehasst wird«, rekapitulierte die Malpazzi. »Galeazzo perfektionierte diese Vorsicht nur.«
»Und Herzog Nerone …«
Leonora hob den Zeigefinger. Sie deutete an, dass die Diskussion ein absehbares Ende haben sollte.
»Nerones Extravaganz, Kreativität und Originalität hat das gemeine Volk nie verstanden – weil es alles hasst, was nicht den Konventionen entspricht.«
Eracle formte ein schmatzendes Geräusch.
»Eine sehr schmeichelhafte Darstellung von einem Herzog, der den Beinamen „der Wahnsinnige“ trug.«
»Nerone war ein Visionär«, behauptete Leonora kalt.
»Visionär«, wiederholte Eracle zwiegespalten. »So wie seine Bestimmungen zur Abschaffung des schlechten Wetters oder die gesetzlich verordnete Verlängerung des Sommers?«
Die Malpazzi machte einen demonstrativen Augenaufschlag.
»Seid Ihr etwa ein Klimaskeptiker, Messer Casanova?«
»Ich halte diese angebliche „Kleine Eiszeit“«, kratzte Eracle mit Zeige- und Mittelfinger an einer imaginären Fensterscheibe, »für eine völlig normale Wetteranomalie, wie es sie immer gegeben hat.«
»Nerone war seiner Zeit einfach weit voraus. Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander.«
»Der Mann hat versucht, auf einer Aubergine beim Palio zu reiten, Madama«, wandte der Casanova nüchtern ein, fügte bitter hinzu: »Weil er sein Pferd mit den Regierungsgeschäften betraut hatte.«
»Er hat das Rennen gewonnen, oder?«
»Weil er alle anderen Reiter umbringen ließ, Madama.«
»Darauf kommt es nicht an«, schob Leonora irgendwelche Gedanken an Menschenleben mit einer Handbewegung beiseite. »Es hat funktioniert. Einzig und allein darum geht es.«