Deutscher Opfermythos

21. Dezember 2018
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Freiheit | Historisches | Italianità und Deutschtum | Mittelalter | Non enim sciunt quid faciunt | Philosophisches | Regionalismus

Mit dem Wiederaufstieg konservativer Gesinnung in Deutschland sowie dem Einzug einer Partei rechts der CDU/CSU ist auch eine Konsensstörung zurückgekehrt, die Kopfzerbrechen bereitet. Sie ist eine logische Folge der Verabsolutierung der deutschen Täterschaft, die vom Holocaust und Zweiten Weltkrieg zuerst auf den Ersten Weltkrieg, dann auf weitere Kriegsverbrechen und schließlich die koloniale Ausbeutung ausgeweitet wurde. Es folgten die Gedankenverbrechen: Reformation, Hegelianismus, Marxismus, Nietzscheanismus („Übermenschentum“) und andere, die jeweils der Welt ein zweifelhaftes Erbe überließen. Etwa ab den 2000ern mussten die Deutschen für so alles Mögliche als Täter hinhalten, war es nun der Klimawandel („ökologischer Fußabdruck“) und weitere genozidale Beteiligung wie etwa an dem Völkermord der Armeniern (den seine wahren Täter indes weiterhin verteidigen). Dass die Deutschen auch immer wieder Opfer des 20. Jahrhunderts waren, vor allem im Zuge der Vertreibung, Teilung und auch als potentieller Fleischschutzschild im Zuge eines atomaren Bombardements in Zeiten eines „heißen“ Kalten Krieges, konnte man dagegen leicht vergessen – oder verdrängen. Irgendwie hatte man es ja verdient.

Die massive Zuweisung von Täterschuld ist vermutlich ein Grund, dass in gewissen Kreisen ein deutscher Opfermythos zurückgekehrt ist, wie er verhängnisvoller nicht sein könnte. Er tritt grundsätzlich nicht nur, aber vor allem in rechten Kreisen auf und erinnert stark an alt-rechte Gedankenmuster. Es ist überdies nicht uninteressant, dass genau jene, die bei Griechen und Italienern bemäkeln, dass diese sich um ihre Verantwortung nicht scherten, selbst überall mögliche Einflüsse und Unterdrückungen ausfindig machen, nur nicht im eigenen Land, das eben nur von Merkeln und Konsorten im Würgegriff gehalten würde.

Derlei Überlegungen sind aber eine Selbsttäuschung. Sie exculpiert die Deutschen ihrer heutigen Verantwortung, insbesondere bezüglich der Vorgänge in der europapolitischen, klimapolitischen wie migrationspolitischen Dimension. Das Beispiel des UN-Paktes macht es besonders deutlich: Deutschland ist eben nicht Spielball fremder Mächte, sondern im Gegenteil federführend bei den Knebelverträgen, die anschließend der ganzen Welt aufgedrückt werden. Auf EU-Ebene ist dergleichen schon länger zu beobachten. Die Juncker-Regierung wird nicht umsonst im europäischen Ausland als eine de-facto-Merkelregierung angesehen. Deutschland ächzt also nicht etwa unter einer EU-Politik, sondern Deutschland ist das entscheidende Land seiner Exekution. So beschwert man sich hierzulande über die deutschen finanziellen Verpflichtungen, sieht sich wahlweise von südlichen Olivenländern oder dem Club Mediterranee ausgepresst. Das stimmt in der Hinsicht, als dass die subsidiären Mechanismen in der EU tatsächlich überdenkenswert sind; es stimmt allerdings nicht, wenn man davon ausgeht, dass sich der dumme Deutsche blauäugig zur Kasse bitten ließe.

In Wirklichkeit setzt Deutschland eine knallharte Hegemonialpolitik in Europa um, bei denen die bitter eingetriebenen Steuermilliarden als Instrument dienen. Es handelt sich hier um ein doppeltes Spiel: einerseits wird der Süden künstlich am Leben erhalten, andererseits gewinnt dabei Deutschland seine Zustimmung zu europapolitischen Projekten, welche die Einheit des Kontinents vorantreiben soll. Geld als Erpressungsmittel spielte bereits im Kampf gegen die einwanderungskritischen Visegrad-Länder eine Rolle. Im Übrigen der Grund, warum sich die Bundesrepublik an diesen Staaten die Zähne ausbeißt: die haben verkündet, sie würden statt Einwanderer aufzunehmen lieber finanzielle Mittel an Brüssel ausschütten. Dass Deutschland in der EU als Antwort nur die Blockade kennt, lässt tief blicken: man ist zu sehr daran gewöhnt, andere mit Eurosilberlingen zu kaufen, als dass man auf die Idee käme, dass bestimmte Länder ganz anders geartete Interessen – nationale Souveränität, weitgehende kulturelle Homogenität, Aufrechterhaltung der Tradition – höher setzen.

Womöglich ist deswegen die italienische Regierung ein Dorn im Auge, weil man bis heute nicht so recht weiß, wie mit Conte, Salvini und Di Maio umzugehen ist. Wollen die Italiener nur hoch pokern, um einen besseren Deal bei EU-Finanzierungsfragen herauszuschlagen? Sind nur Dilettanten am Werk, die nicht wissen, was sie tun? Oder steckt ein gezielter Angriff auf den Euro und das gesamte europäische Projekt hinter den Attacken und dem neuen Finanzplan? Dass die Regierung aus M5S und Lega sich im Zweifel nicht bestechen lässt, ist eine weit größere Sorge in Brüssel und Berlin, als nochmals höhere Aufwendungen zu zahlen. Denn eine Koalition Visegrads mit Italien wäre eine Allianz, die sich nicht mehr brechen ließe. Wir sprechen hier von Ländern, deren Bevölkerung mit fast 120 Millionen Einwohnern das deutsch-französische Tandem in erhebliche Schwierigkeiten brächte.

Immer noch wird hierzulande viel zu wenig verstanden, dass Draghi kein Italiener, Macron kein Franzose und Weber kein Deutscher ist. Sie gehören einer Welt an, in der allein Überleben und Ausbau der EU wichtig sind. Wer sich als rechter Deutscher (im mehrfachen Sinne) begreift, muss auch wissen, wo die wahren Verantwortlichen sitzen: nämlich zuvorderst in Deutschland selbst. Nicht nur in Berlin oder den Landesparlamenten: denn dieser unser Staat wird immer noch von einer Mehrheit der Bundesbürger in dieser Form getragen, ob nun aus eifernder, fast militanter Überzeugung wie in Medien und Politik, oder eben aus trägem Desinteresse. Dazu gehören übrigens auch weite Teile der CDU, ihrer Mitglieder und Wähler, für die bereits das Daheimbleiben ein Verrat an staatsbürgerlichem Engagement ist, und wo man sich noch einmal aufrafft, um den Sozen und Grünen keine Stimme zu geben – um dann anschließend mit ihnen zu koalieren und alle eigenen Werte zugunsten des Status quo über Bord zu werfen. Es gewinnt damit nur die national wie global vernetzte Elite, in der die ideologischen Fronten längst so geklärt sind, dass die Weltgeschichte mittlerweile auf Schienen fährt.

Deutschland steht an der Spitze all jener Ideologien, die ein klassischer Konservativer, Rechter oder Reaktionär im tiefsten Herzen verabscheuen muss. Die Kita-Broschüren gegen rechte Elternhäuser von der AAS wurde von der Bundesregierung finanziert, ebenso vielerlei Kampagnen gegen Hass und Hetze. Die DUH wird auch aus Töpfen des Bundes gefüttert. Der Klimaschutzplan samt Abschaffung des Verbrennungsmotors oder der Ausstieg aus der Kernenergie sind urdeutsche Angelegenheiten. Die Verteilung von Migranten – möglichst „gerecht“ – ist ein Ziel dieser Bundesregierung. Der Migrationsstrom wurde auch nicht zielgerichtet nach Deutschland gesteuert; diese Regierung hat ihn mit offenen Armen und unter Applaus der Medien eingeladen. Lassen Sie sich dazu auch nichts erzählen, was „die Welt“ davon hält: der Großteil der „Welt“, die sich außerhalb Deutschlands befindet, hat den Deutschen 2015 einen verzweifelten Vogel gezeigt. So zu tun, als hätte das irre Gebaren Deutschlands 2015 nichts mit dem Brexit 2016 zu tun, bedarf journalistischer Wagenburgen.

Deutschland ist – so hart es klingt – erneut Täter, erneut von Wahn beseelt, erneut von so viel Gewicht, dass es ganz Europa erdrückt. Anhänger des „Opfermythos“ wollen das nicht wahrhaben, glauben stattdessen, dass Deutschland immer friedlich war, sich immer nach außen hin wehren musste, immer unterdrückt wurde. Das ist – mit Verlaub – Quark. Während Deutschland tausend Jahre ungestört in der Mitte Europas so vor sich hin heilig-römisch-reichte (und im Gegensatz zu manch preußischer Erzählung sowohl den Franzosen wie Türken ganz gut widerstehen konnte) sind Polen und Italiener mehrmals Augenzeugen der Verwüstung und Besetzung ihrer Heimat durch Fremde geworden. Selbst den Dreißigjährigen Krieg, der zum frühneuzeitlichen Trauma avancierte, haben die Deutschen selbst heraufbeschworen; im Übrigen haben sie diese tragische Note auch eingestanden. Tatsächliche Besatzung und Fremdherrschaft kannten die Deutschen dagegen bis Napoleon nicht (die Polen kannten zu dem Zeitpunkt nicht einmal mehr ein eigenes Land). Es ist im Übrigen auch deswegen von der Gegenseite so lächerlich anzunehmen, es gäbe keine historische deutsche Kontinuität, da doch bis 1806 fast nichts so viel Kontinuität hat wie das Alte Reich. Die Griechen hatten da schon mehr als 300 Jahren ohne Byzanz auskommen müssen.

Die Deutschen sind gesamthistorisch keine Opfer. Sie sind das Volk, das verhältnismäßig am größten und wohlhabendsten ist; es gibt kleinere Völker, die reicher sind, und größere Völker, die ärmer sind. Das „deutsche Verhältnis“ ist es jedoch, welches die deutsche Nation nicht zum Spielball, sondern zum Spielbetreiber macht, ob nun als mittelalterliches Heilig-Römisches-Reich, als frühneuzeitliches Österreich oder eben als vergrößertes Preußen ab dem 19. Jahrhundert. Jene, welche die Zerstrittenheit der deutschen Territorien in der Frühneuzeit so beklagen, übersehen, dass Deutschland mit Österreich und Preußen gleich zwei Vertreter hatte, welche die europäische Politik von 1700 bis 1900 maßgeblich zusammen bestimmten. Dass Österreich dabei das diplomatischere, das feinere, das vorsichtigere Konzept war, wurde ihm dabei negativ ausgelegt; dass Österreich dafür schon ab Maximilian I. in der Renaissance Großmacht war und es bis zum Ersten Weltkrieg blieb, somit auch viel stabiler als der preußische Hasardeur im Angesicht der Historie, wird kaum beachtet. Oft auch vergessen: Preußen betrieb eine aggressive Politik in Polen, Österreich – mit Abstrichen – dasselbe auf dem Balkan und in Italien.

Die Crux: die Medien suggerieren, dass Deutschland von Europa profitiert. Sie sagen aber nie, dass dieser „Profit“ auch zu Ungunsten anderer Länder ausfällt. Sie schaffen es, beides gleichzeitig zu denken: dass die EU ein Projekt ist, das Deutschland wie den anderen Ländern nützt. Ebenso ist es bei den Opfermythlern, die davon ausgeben, das Deutschland nur ausgesaugt würde, aber nichts aus der EU an Vorteilen beziehe. Beide Ansichten sind für das Verständnis der Situation, in der wir uns befinden, nicht weiter hilfreich. Es nützt nur denen, welche die europäischen Völker gegeneinander aufhetzen wollen oder politische Bewegungen, die sich ansonsten auf internationaler Ebene einig würden, gegeneinander ausspielen. Böse formuliert: die Deutschen sind nicht etwa „in Ketten“ gelegt worden – sie haben das freiwillig und selbst getan. Insbesondere, da sie ihr Schicksal in die Hände von Leuten gelegt haben, die es angeblich besser wissen.

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