Systemfehler Relotius

20. Dezember 2018
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Ironie | Medien | Philosophisches

Ein SPIEGEL-Redakteur, der Fake News streut – was wäre schlimmer als eine solche Schlagzeile für die etablierte Medienlandschaft? Die Hamburger Redaktion hatte eine Woche Vorlauf, um auf den größten anzunehmenden Unfall zu reagieren, der dem Qualitätsjournalismus geschehen kann. Seit letztem Donnerstag wussten die Kollegen von Claas Relotius, dass eines ihrer vielversprechendsten Talente es mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm. Wer mit Comics hantiert, die gegen den US-Präsidenten gerichtet sind, den der Spiegel wie einst Franz Josef Strauß dämonisieren will, tut gut daran, die Story vom Verschrotter des demokratischen Sturmgeschützes schnell zur Story des Märchenerzählers umzumünzen, der mit allen Sanktionen der Presseinquisition rechnen muss.

Dabei sind es herrliche, bunte, lebendige Märchen, die uns Relotius erzählt. Tausendundeine Nacht lässt im „Kinderspiel“ grüßen, wo Relotius vor der syrischen Kulisse eine Geschichte erzählt, die Scheherazade im Palast des Schahriyar gesponnen haben könnte. Denn auch Relotius war eine Scheherazade: die Prinzessin und der Redakteur erzählten beide um ihr Leben. Beiden war der Tod gewiss. Denn wenn Scheherazade die Hinrichtung durch den König fürchtete, dann Relotius durch die Journalistenwelt. Wir wissen mittlerweile, dass ihn nicht so sehr der Ehrgeiz trieb, als die Angst. Angst darum, nicht an seine Erfolge anknüpfen zu können. Wer dreimal den Journalistenpreis gewinnt, ist verdammt dazu, es auch ein viertes Mal zu tun – sonst verliert man den Anspruch von Esprit, Witz, Originalität. Relotius durfte weiterleben, aber vom persischen Despoten dazu verdammt, seine Geschichte fortzuführen. Der Despot: das sind die anspruchsvollen Vertreter der Juries, die Hengste in der Manege der Pressewelt, die Edelfedern, die Crême de la Crême. Erzähl uns noch eine Geschichte Claas – oder verlässt dich das Talent bereits mit 33 Jahren?

Es soll hier nicht die gesamte Causa aufgerollt werden. Der Spiegel tut sein Möglichstes, um transparent zu wirken. Schonungslos schildert Ullrich Fichtner in einem gewaltigen, langen und ebenso lesenswerten Bericht die Schindluder, die Vergehen, die Mogeleien, die Märchen, die Lügen, die Schlampigkeiten und damit den Fall eines Journalisten, dessen größtes Vergehen darin bestand, nicht das brotlose Autorendasein gewählt, sondern auf der Yacht des hohen Qualitätsjournalismus angeheuert zu haben, wo die Lorbeeren nah und das Prekariat des freien Journalisten fern ist. Der Spiegel bemüht sich um Schadensbegrenzung, zeigt, wie ernst er es mit der Dokumentation nimmt. Kein Zweifel wird daran gelassen: wir erfahren von einem jungen Journalisten, der tief stürzt, der gebeichtet, gestanden hat, dessen Büro seit Montag geräumt ist, der gekündigt hat. Der tiefste Fall vom Podest der medialen Anerkennung: nur einen Tag nach der letzten Preisverleihung fliegt der Schwindel auf.

Der Spiegel schreibt selbst aus dieser Story noch eine Story. Nur, dass Relotius diesmal nicht Autor, sondern Thema ist. Und die Story ist so gut, dass man auch hier wieder an eine Fiktion glaubt.

Was hat dieser großartige Betrüger den Schah an der Nase herumgeführt! Weil er in der amerikanischen Provinz keine interessanten Leute findet, erfindet er welche, samt eines Ortsschildes, das Mexikaner vor dem Betreten warnt. In Mississippi trifft er den einzigen Arzt des gesamten Bundesstaates, der Abtreibungen durchführt und früher bekennender Lebensschützer war. Er begleitet auf mehreren Zeitschriftenseiten eine Amerikanerin, die sich bei Hinrichtungen als Zeugin zur Verfügung stellt, geht dabei auf jede Regung, jede Sentimentalität ein – obwohl er die Dame nur 20 Minuten getroffen hat. Eine Bürgerwehr an der mexikanisch-amerikanischen Grenze besucht er erst gar nicht, um dann ein Zerrbild anti-amerikanischer Reflexe zu liefern. Er erfindet Figuren, Biographien, Dialoge, Handlungsstränge. Und immer spielt Musik eine Rolle: ob im Hintergrund gespielt, gesummt oder gesungen.

Se non è vero, è ben trovato! Wenn es nicht wahr ist, so ist es gut erfunden! So gut, dass die Etablierten den Mozart der Reportage mit Preisen, Lob, Anerkennung überhäuften. Relotius blieb dabei eher zurückhaltend, fast demütig. Vielleicht weil er beschämt war; vielleicht weil er wusste, dass er jetzt dazu verdammt war, eine größere, bessere, wunderbarere Geschichte erzählen zu müssen. Eine, die den Geschmack seines Publikums traf, damit sein Kopf nicht doch noch durch den orientalischen Thronsaal rollte. Obwohl Relotius kein politischer Überzeugungstäter war, musste er nicht nur den Ton und den Kitsch des linksliberalen Lagers treffen, sondern auch dessen natürliche Belange in Sachen sozialer Justiz.

Spannend also, dass Relotius damit zitiert wird „krank“ zu sein, er und nur er allein für all das schuldig, was geschehen ist. Eigenverantwortung, plötzlich. Und „kriminelle Energie“! Wo doch diese Thematik ein sonst urlinkes Thema bedient: die Gesellschaft ist schuld. Der Druck vonseiten der Vorgesetzten, die nicht nach Information, sondern nach „Geschichten“ gieren. Das Verlangen danach, das eigene Weltbild bestätigt zu sehen und im Weltbild bestätigt zu werden. Ein Klima, bei dem es gilt, ebenso auf Linie zu sein wie auch zugleich unbedingt „Neues“ liefern zu müssen.

Der Spiegel ist Mittäter. Die Juroren sind Mittäter. Der gesamte mediale Komplex ist Mittäter. Sie deformieren und degenerieren diejenigen, die entweder im Sud des unteren Journalistenprekariats landen, oder mit Lüge und Betrug ihre Beiträge anreichern. Damit sie angenommen werden. Damit sie nicht in der Masse versinken. Relotius ist kein Einzelfall, wie man ihn hinstellen möchte. Er ist die süße Frucht an einem verfaulten Baum, die durch ihren Einfallsreichtum und ihre Originalität auffiel. Vor 700 Jahren hätte Relotius eine erfolgreiche Karriere als begnadeten Fälscher gemacht; bei den vielen gefälschten Schriften kam ihm sein Kollege Moreno nur in einem Fall auf die Spur, die Entlarvung aller übrigen Werke sind auf sein Geständnis zurückzuführen. In einem anderen Kosmos waren diese Geschichten jedoch wahr: weil sie für ihre Klientel die Wahrheit bedeuteten, weil sie glaubhaft waren, weil es Zeugen gab, weil sie eine Ideologie abstützten, welcher die Presse bis heute mehrheitlich anhängt.

Relotius hatte Erfolg, weil er genau wusste, wie das „System“ funktionierte. Was verlangt wurde. Was nicht weiter ins Gewicht fiel, wenn die Geschichte stimmte. Wie man jahrelang geräuschlos Stories zusammenschreiben konnte, ohne nur einen Tag zu recherchieren. Dass es keiner bis zuletzt bemerkte, spricht für Relotius – und gegen die Journalistenwelt, die sich jetzt distanziert, statt zu begreifen, was die Scheherazade unserer Zeit getan hat: sie hat den Schahryas dieser Welt das Unrecht aufgezeigt, das sie selbst in Gang setzten.

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