Merkels langer Arm

30. Oktober 2018
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Machiavelli | Medien

Der Dezember ist nicht deswegen ein interessanter Monat, weil er uns einen neuen CDU-Vorsitzenden einbringt; sondern vor allem, weil er ein Bekenntnis der CDU ist. Es wird offenbar, ob es Merkel gelungen ist, die Partei so umzugestalten, dass sie nur noch einen genehmen Nachfolger wählen kann – oder ob die Partei in der Lage ist, das eigene Schicksal über das der Übermutter zu stellen. Nicht, dass die CDU sich einer Erneuerung und Reform oder gar einer Rückkehr zu den Wurzeln verschreibt. Sie würde aber im Fall einer Nicht-Wahl der Merkelianer sich zumindest so verkaufen. Kurz: hat man auch innerhalb der CDU begriffen, dass mit Merkel und ihrem Anhang kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist, oder reicht Merkels langer Arm so weit, dass ein Kandidat von Merkels Gnaden eingesetzt wird?

Es ist die Frage nach parteitaktischem Realismus oder ideologischer Selbsthypnose. Die hellsichtigeren Delegierten in der Union werden einsehen, dass ein Fall unter die psychologisch wichtige 30 Prozent Marke gleichbedeutend ist mit Dreierkoalitionen. Die Große Koalition ist hinsichtlich des Wahlergebnisses und der im Parlament verteilten Sitze längst keine mehr. Der Verfall der SPD verhindert zwar, dass es in den nächsten zehn Jahren – und vermutlich darüber hinaus – wieder einen ernstzunehmenden sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten gibt. Die CDU hat damit das Kanzleramt gepachtet.

Zusätzlich bleibt offen, wie stark die Bundestagsfraktion und die Länderfraktionen in Zukunft sein werden. Bereits in jüngster Zeit haben die Grünen, die an mehreren Landesregierungen beteiligt sind, durch ihr Veto CDU-Beschlüsse im Bundesrat gekippt. Jene Gruppen in der CDU, die weiterhin Parteipolitik betreiben wollen, werden gelernt haben, dass durch Anbiederung an die Grünen keine Gesetzesbeschlüsse zustande kommen, sondern nur die vorherige Aufgabe derselben. Die SPD ist da einsichtiger. Natürlich kann sich die CDU darauf verlassen, nur noch opportunistische Machtpolitik zu betreiben, aber die Wahlergebnisse in Hessen und im Bund haben sehr deutlich gezeigt, wohin dies führt. De facto nimmt die CDU wieder die Position des alten Weimarer Zentrums ein, das in der Mitte immer wieder den Kanzler stellt, weil überall in der Lage anzudocken. Der Unterschied: das Zentrum hatte aufgrund seines sehr geschärften katholisch-konservativen und bürgerlichen Charakters ein scharfes Wahlprofil mit einer Stammklientel, welche die Partei noch 1933 wählte. Die jetzige CDU in ihrer Austauschbarkeit droht langfristig die komplette Erosion, wenn sie im Zeitalter der verschärften Polarisierung auf Beliebigkeit setzt.

Dem realistischen Lager steht das Lager jener Leute entgegen, die mit oder unter Merkel Karriere gemacht haben. Die weitere Öffnung der Union hin zu einer Wohlfühlpartei, die keine Ecken und Kanten mehr hat, ist das erklärte Projekt einer nicht geringen Unionsgruppe, die „pragmatisch“ die CDU in jede Richtung stoßen kann, so es denn der Sache nützt. Das Wählerpotential sieht man hier nicht in jenen Verprellten, die derzeit bei AfD und FDP gelandet sind, oder am Wahltag ganz zu Hause bleiben, sondern weiterhin im Milieu, das eher im gebildeten Sektor der SPD oder bei den Grünen beheimatet ist. Dass diese Strategie bisher so gar nicht aufgegangen ist – Grüne-Wähler wählen weiterhin das Original, während die SPD-Wähler scharenweise zur AfD oder den Grünen überwechseln – spielt dabei keine Rolle; der Schritt mit dem Zeitgeist sichert die Anschlussfähigkeit zum juste milieu und den Medien. Allein die jetzigen Lobpreisungen Merkels für ihren Rücktritt (in drei Jahren, wohlgemerkt) sprechen Bände über diese folgenschwere Verbandelung. Vergessen scheint, dass sie noch 2017 wie mit ihrem Kanzlerstuhl verschweißt schien und der Partei eines der schlimmsten Wahlergebnisse seit 1949 einbrockte.

Warum diese Aufstellung? Sie bildet die Realität der Spaltung in der Union besser wieder, als eine mögliche Aufteilung in Konservative oder Liberale. Jüngst las ich, die Kandidatur von Spahn könnte Merz entscheidende Stimmen im konservativen Lager kosten. So denn es ein irgendwie geartetes Lager in der CDU gibt, das sich noch „konservativ“ nennen kann, ist diesem eigentlich überdeutlich, dass Spahn ihm nicht angehört. Trotz aller Vorkommnisse ist er ebenso wie Laschet oder Kramp-Karrenbauer ein Günstling aus Merkelzeiten. Ebenso sinnvoll wäre es, Kramp-Karrenbauer wegen der Laschet-Kandidatur Verluste zu prognostizieren, weil er nun im progressiven Lager der CDU wuchere. Eher ist es so, dass einzig Merz einen glaubwürdigen Neuanfang darstellen kann, während die übrigen drei Kandidaten an der merkel’schen Brust genährt wurden. Das Narrativ der Königsrückkehr wurde gestern – samt Fallstricken – ermüdend dargelegt.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass Merz der beste Kandidat für die Union ist. Die drei anderen wären ein Segen für die AfD und auch die FDP. Dass Merz dafür auf der linken Seite größeren Beschuss erleben müsste, ist auch deswegen zu vernachlässigen, weil im Wahlkampf alle Kandidaten unter die Räder kommen – am Ende des Tages sind alle Parteien der CDU wegen ihrer Kanzlerkandidatur gleichermaßen Feind. Das rot-rot-grüne Momentum ist nach 2013 verloren gegangen, durch die wiedererstarkte FDP und die neu eingezogene AfD hat die Union das Vorzugsrecht. Die Wahl des CDU-Vorsitzenden hat damit auch Signalwirkung bezüglich einer möglichen Koalition: Merz und Laschet in Richtung FDP, Kramp-Karrenbauer Richtung Grüne.

Weiterhin nicht unwichtig: drei der vier Kandidaten stammen aus NRW. Obwohl Laschet auf den ersten Blick als Außenseiter erscheint, ist es doch wahrscheinlich, dass der CDU-Landesverband eher dem Ministerpräsidenten die Stange hält als Spahn oder Merz. Das könnte auf dem Parteitag wahlentscheidend werden. Die CDU, die Merz verlassen hat, ist nicht die CDU, in die er zurückkehrt. Angesichts der eng vernetzten und zudem tief verwurzelten Merkelianer könnten Kramp-Karrenbauer und Laschet einen Kompromiss schließen. Dann hätte Merkel auf ganzer Linie gewonnen: sie könnte die nächsten drei Jahre als primus inter pares ruhig weiter regieren und ihre Amtszeit ohne Zwischenfälle beenden. Die CDU wäre dann spätestens am Wahlabend 2021 geliefert, aber Rücksicht auf den Zustand ihrer Partei hat die Kanzlerin ja noch nie genommen. Einzig der Exilant Merz könnte dem einen Strich durch die Rechnung machen, indem er beinhart die Versäumnisse der Merkel-Ära anprangert. Dann könnte der Kanzlersessel doch noch vorher kippen.

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