Wer hat eigentlich je von Myanmar gehört, bevor eine neuerliche „Flüchtlingskrise“ den Miniaturglobus der heimischen Journalistenwelt erschütterte? Die ehemalige britische Kolonie Burma hatte nur Bedeutung für einige Fernostexperten, Asienhistoriker oder Friedensaktivisten. Seit Neuestem gilt sie als Beispiel dafür, dass auch Muslime verfolgt werden können, dass die vermeintlich friedlichen Buddhisten zur Gewalt neigten. Der Ruf nach „Menschenrechten“ wird laut, und wo der noble Kampfschrei erklingt, sind alle Augen auch auf den hinterletzten Winkel der Erde errichtet – selbst wenn es sich um das abgelegene Land zwischen Indien, China und der indochinesischen Halbinsel handelt.
Doch für die Politik der Zukunft ist Myanmar weder abgelegen, noch ist es unwichtig. Denn gerade seine geographische Lage ist der Schlüssel zum tieferen Verständnis der Konflikte, die das Great Game zwischen asiatischen und angelsächsischen Einflüssen neu beleben. Mynamar ist Chinas direkter Nachbar im Südosten und liegt am Indischen Ozean. Zwar ist der Einfluss des chinesischen Drachen auf diese Region seit Beginn des Jahrzehnts zurückgegangen, als es dort zum Regierungswechsel kam und das Land den Status einer Marionette der Pekinger Regierung abstreifte; trotz des anfänglichen Investitionseinbruchs ist Myanmar weiterhin Ziel chinesischer Intervention.
Das gilt insbesondere deswegen, weil das Reich der Mitte allein in den Jahren 2010 bis 2011 8,2 Milliarden Dollar investiert hat. Regierungswechsel hin oder her; die damaligen Projekte sind für die alte und neue Großmacht des fernen Ostens zu virulent, als dass es China egal sein könnte, was aus Myanmar wird. Fünf Jahre nach dem Systemwechsel lag die chinesische Investitionsrate 2015 bis 2016 bei 511 Millionen Dollar.
Die Frage bleibt: wofür gab China Anfang dieses Jahrzehnts die gewaltige Summe aus? Peking investierte vor allem in Infrasktrukturprojekte und Ressourcenförderung, insbesondere in der einstigen britischen Kolonialprovinz Arakan, die heute Rakhaing heißt. Rakhaing ist die lange, westliche Küstenregion Myanmars, die an Bangladesch bzw. die Bucht von Bengal grenzt. Vom Hafen Kyaukpyu wurde eine 1.000 Kilometer lange Pipeline in die südwestchinesische Provinz Yunnan gebaut, die 400.000 Barrel Öl von Myanmar nach China fördert – täglich.
Vor Kyaukpyu liegt außerdem das Shwe-Gas-Feld. 2004 wurde es vom koreanischen Konzern Daewoo entdeckt und erschlossen. 2013 begann die Förderung, eine neuerliche Pipeline für Erdgas verbindet seitdem die Anlage mit Kyaukpyu und China.
Kyaukpyu wurde außerdem massiv ausgebaut. Es soll einer der größten Tiefseehäfen am Indischen Ozean werden. Die Financial Times bezeichnete den Ort als zukünftiges „Mini-Singapur“. China hat dort eine Sonderwirtschaftszone eingerichtet. Chinesische Gelder fließen außerdem in den Ausbau der Schienennetze und die Anlegung neuer Schnellstraßen zwischen der Stadt am Indischen Ozean und der chinesischen Provinzhauptstadt Kunming.
China befreit sich mit diesem Kniff aus einer jahrhundertelangen historischen Abhängigkeit. Denn bisher mussten alle Güter, die in den großen chinesischen Häfen eintreffen, durch das Nadelöhr von Malakka – das heißt, um die indochinesische Halbinsel herum navigieren. Da China diese Seestraße kaum militärisch kontrollieren kann – wie es die Portugiesen, Niederländer und Briten taten, um den asiatischen Handel zu kontrollieren – wählte es die elegante Lösung: das Erdöl aus dem Nahen Osten wird bereits in Myanmar über Pipelines nach China gepumpt. Es folgte das Erdgas; und vielleicht könnten bald auch andere Importprodukte über das Schienen- und Straßennetz transportiert werden. Die Seestraße von Malakka – übrigens eines der letzten Refugien der Piraterie – verliert durch einen chinesischen Trick seine historische Rolle.
Die Rakhaing-Provinz in Myanmar hat daher für China eine geostrategisch enorme Bedeutung, und obwohl sich Rangun und Peking in letzter Zeit eher entfremdet haben, steht für China hier nicht nur ein Milliardengeschäft auf dem Spiel, sondern auch die langfristige Unabhängigkeit von der Seestraße über Malakka. Das bedeutet aber auch, dass die indochinesischen Anrainerstaaten, die früher aufgrund der Seewegskontrolle ein Faustpfand gegenüber der chinesischen Großmacht in der Hand hielten, dieses verlieren. Für traditionelle amerikanische Verbündete wie die Philippinen oder Thailand, aber auch andere ASEAN-Staaten, die sich in amerikanischen Schutz vor der aufsteigenden Macht Chinas wähnen, ist das ein Nachteil. Sie können dem Drachen im Ernstfall nicht mehr die Kehle zuschnüren. Indirekt haben die Amerikaner damit auch weniger Mittel, um Chinas Welthandel im Ernstfall zu stören, sollte die Küste von Myanmar zum südöstlichen chinesischen Hafen ausgebaut werden.
Vom Namen Rakhaing bzw. Arakan leitet sich im Übrigen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Name Rohingya ab. Obwohl Kyaukpyu nicht in ihrem Stammland liegt, so ist auch dort eine Präsens vorhanden; und ebenso ist hervorzuheben, dass China nicht nur dort, sondern in weiten Teilen der Region investiert hat, so auch in der Regionalhauptstadt Sittwe, der im Zuge der „Rohingya-Krise“ Bedeutung zukam.
Natürlich kann es reiner Zufall sein, dass China Milliarden in diese Region investiert hat, um eines der größten Hafenprojekte der asiatischen Geschichte anzustoßen und rein zufällig die Amerikaner sich besonders in diesen Konflikt um eine Minderheit einmischen, von der vor Jahren niemand etwas gehört hat. Allerdings hat die Vergangenheit gezeigt, dass Weltpolitik weniger Nächstenliebe prägt, als vielmehr das eigene Interesse.
Um ein Zitat von Carl Schmitt leicht abzuwandeln: Wer Menschenrechte sagt, will betrügen.