Der Herbst Europas

13. März 2018
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Mittelalter | Philosophisches

Von dem niederländischen Historiker Johan Huizinga stammt das Werk „Der Herbst des Mittelalters“. Mein Professor für Mediävistik hielt dieses Buch immer wieder hoch. Es gilt bis heute als eines der Meisterwerke der historischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Für Huizinga ist Kunst und Kultur Ausdruck der Geschichtsepoche selbst; Geschichtsschreibung bedeutet Verschriftlichung der Kulturgeschichte. In der Kultur sind Mentalität und Gedanken vergangener Generationen eingeprägt. Sie macht den damaligen Zeitgeist fassbar, verbildlicht ihn im wahrsten Sinne des Wortes.

Huizinga hat sein Buch im Jahr 1919 veröffentlicht, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Europa befindet sich seitdem neuerlich in einem Herbst, in dessen Schneegestöber wir heute stehen. Huizingas Werk ist damit ein Sinnbild für den damaligen Zeitgeist, der den „Untergang des Abendlandes“ aus Spenglers Hand bereits kannte. Die kommunistische, „rote Bedrohung“ im Osten war keine abstrakte Idee mehr. Das Europa der Fürsten und Stände war davongefegt worden.

Versucht man unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten danach zu suchen, was vor Beginn des 20. Jahrhunderts „schief“ ging, so fällt als erster Unterschied der Zustand der Kunst und Kultur im endenden 14. bzw. beginnenden 20. Jahrhundert auf. Die Herzöge von Burgund stifteten eine Vielzahl von Kunstwerken, Flandern wurde zum Mekka der Maler und Künstler. In der Krise flüchten die Menschen immer wieder in die Arme der Kultur. Boccaccios Exilanten vertreiben sich ihre Zeit während der Pest mit Geschichten, die Überlebenden weihen der Madonna Kirchen und Gemälde. Das Phänomen lässt sich bei einigen Kulturen der Weltgeschichte beobachten, die vor ihrem Absterben eine letzte Blüte in der Kunst erleben. Das gilt beispielsweise für die spätbyzantinische Mosaikkunst oder auch die Ornamentik der Alhambra von Granada. Die italienische Hochrenaissance erleben wir zum Zeitpunkt der italienischen Kriege, als Italien selbst besetzt wird und für Jahrhunderte besetzt bleibt; Goethe und Schiller drücken Deutschland ihren Stempel auf, als die Franzosen am Rhein stehen und das Reich aufgelöst wird. Das Ende Venedigs zieren Canalettos Ansichten.

Die derzeitige Situation ist deswegen einzigartig, weil sie:

Primo: Nicht nur ein einziges Land erfasst, sondern den gesamten Kontinent.
Secundo: Es im Gegensatz zu den übrigen Dekadenzphasen der Menschheitsgeschichte zu keiner letzten kulturellen Blüte kommt.

Wieder kommt die (vor)letzte Jahrhundertwende ins Spiel. Futurismus, Kubismus, Surrealismus und alle Facetten der damaligen Kunst mag man als Erneuerung der Malerei interpretieren. Welthistorisch mögen Freunde dieser Stilrichtungen sie als neuerliche Renaissance nach dem spätmittelalterlichen Herbst ansehen. Bis hin zur abstrakten Malerei stellen sie auch besser als vieles andere dar, welchen Bruch unser Europa erlitten hat. Für den einen mögen sie Meisterwerke sein, doch zeigt sich doch nirgendwo offener die Verlorenheit der Moderne, die vergessen hat, was ihr Zentrum ist. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Malerei weiß mit ihren Heiligen, Mythen und Hofszenen sehr genau, was Sinn und Sein ist. Die Kunst kennt hier noch eine Wahrheit, nimmt diese Wahrheit an und formuliert sie aus; die Moderne dagegen übernimmt die Wahrheit, die ihr gerade gefällt. Hier soll nicht Kritik an der Populärkultur geübt werden, denn auch Populärkultur hat ihren Sinn und Zweck. Wenn jedoch eine Suppendose dieselbe Wertigkeit hat wie der Heiland, so ist offenbar, dass sich etwas verändert hat, und vermutlich nicht zum Besseren.

Europa verhallt demnach in der Geschichte, es bleibt in seinen letzten Jahrzehnten nichts übrig, auf das es zurückschauen kann. Es bleibt das, was auch schon um 1900 stand: seine Kathedralen, seine römischen Ruinen, seine Renaissancekunst, seine Philosophie der Neuzeit, seine industrielle Infrastruktur. Es gibt im Grunde nichts Ewiges, was wir nachfolgenden Generationen übergeben können, als das, was schon unsere Urgroßväter hatten. Bitte komme jetzt keiner mit Demokratie und Freiheit – Freiheit kannten schon Mittelalter und Frühneuzeit, Demokratie gar die alten Völker. Auch der technische Fortschritt als solcher ist keine Neuerung, er hat nur verschiedene Stufen, die zu einem gewissen Zeitpunkt erklommen werden.

Ist das Ausbleiben eines letzten kulturellen Feuerwerks ein Hinweis, dass es vielleicht doch nicht so schlecht um Europa steht? Optimisten könnten auf die Idee kommen. Doch die gegenwärtige Lage zeugt eher davon, dass es kaum noch etwas gibt, über das es sich lohnt, darüber zu musizieren, zu schreiben oder zu malen und zugleich eine ganze Gesellschaft erfasst und beflügelt, ohne dass es zugleich auf niedere Triebe zielt. Vermutlich ist das eher ein Anzeichen, dass wir den Punkt des „no return“ bereits erreicht haben.

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