Europas welke Blätter

12. März 2018
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Philosophisches

Wenn im Folgenden von Europa die Rede ist, dann ist damit jener kulturelle Kosmos gemeint, der nahezu auf allen Feldern seit der Renaissance diesen Globus beeinflusste und bestimmte. Es ist das Kulturgemisch aus antiker griechisch-römischer Tradition und christlichem Glauben. Im Mittelalter fasste man diesen Kosmos als Res publica christiana zusammen, später als Abendland oder Europa, erst viel (viel) später als Westen. „Europa“ sind zugleich die Völker dieses Kontinents, die eben diese Tradition teilen.

Der Zenit der europäischen Entwicklung fällt in die Zeit zwischen dem späten 18. Jahrhundert und dem frühen 20. Jahrhundert. Es ist zugleich das Zeitalter der Revolutionen, einerseits der politischen, der geistigen, der wirtschaftlichen, der industriellen und der imperialen (Revolution hier im wortwörtlichen Sinne der tief greifenden Umwälzungen). Als Frontspitze mag hier das Beispiel Großbritanniens dienen: ein kleiner Inselstaat, wo mit der Industrialisierung ein folgenreicher Prozess begann, der später nicht nur auf das Festland, sondern auf die ganze Welt exportiert wurde. Zugleich ist es dieses geographisch wie demographisch im Weltvergleich kleine Land, dass Anfang des 20. Jahrhunderts die Welt beherrscht: jeder vierte Quadratmeter ist um 1900 britisch.

Dass die Ideen und Technologien Europas verbreitet werden, hängt nicht zuletzt mit der Expansion zusammen, deren Vorreiter ab dem 16. Jahrhundert die Spanier und Portugiesen sind. Kolonialismus und Imperialismus werden heute von denselben Leuten gegeißelt, die andererseits den liberalen Weltstaat preisen; dabei ist dessen Idee erst durch die Verbreitung europäischen Gedankenguts gereift. Nicht aufklärerische Schriften lehrten die Japaner Parlamentarismus, Modernismus und Liberalismus, sondern Kanonenboote. Insbesondere Asien lernte vom „Westen“, weil es der westlichen Dominanz zu entgehen suchte – und nahm pragmatisch oft das, was nutzte, und ließ weg, was nicht nutzte. Was Japan Ende des 19. Jahrhunderts tat, tut China heute in gleicher Weise.

Diese geistige und politische Strahlkraft Europas scheint heute völlig verschwunden. Wir sind an einem Punkt angelangt, da Europa in doppelter Hinsicht ein alter Kontinent geworden ist. Die Demographie ist das deutlichste Merkmal. Ab dem 18. Jahrhundert – noch vor der industriellen Revolution – verzeichnen die Länder des Kontinents eine steigende Geburtenzahl, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts beschleunigt. Der Bevölkerungszuwachs hat einen nicht geringen Anteil am europäischen Expansionsdrang. Industrien und Fabriken können nur dort funktionieren, wo eine gewisse Mindestmasse lebt. Während früher postuliert wurde, die Industrielle Revolution hätte eine steigende Bevölkerungszahl verursacht, erscheinen nach heutigem Forschungsstand die Ursachen genau umgekehrt. Die Stärke Europas in den 200 Jahren zwischen 1750 und 1950 ist auch seinem Bevölkerungswachstum zu verdanken. Das nur als Symbol dafür, was ein Bevölkerungsrückgang wie in Deutschland und Italien wirklich bedeutet.

Die Ursachen dafür kann man auf den Pillenknick, den Hedonismus, die 68er oder andere zeittypische Erscheinungen zurückführen, die das Wertesystem der Nachkriegszeit umkrempelten; die Zahl von durchschnittlich 100.000 Abtreibungen in der Bundesrepublik seit den 70ern – vorsichtig geschätzt 4 Millionen Deutsche, die uns heute fehlen, mögliche Nachkommen nicht einberechnet – sind markanter Ausdruck einer Kultur, die gegenwarts- und ich-bezogen die Zukunft die Gesamtheit menschlichen Lebens als zweitrangig einstuft. Eine Quintessenz des Menschenlebens ist üblicherweise die Reproduktion. Dies alles könnte man in der Tat anführen.

Das Beispiel ist symbolisch gut gewählt, aber die Umwertung der Werte und der still vollzogene Suizid Europas sind Ausdruck und Folge, nicht Ursache. Der materiellen Vernichtung geht die geistige voran. Die Wurzeln europäischer Selbstvernichtung gehen viel weiter zurück. Auch der Zweite Weltkrieg, der so für ziemlich alles herangezogen wird, wenn es um Ursachenforschung geht, kann keine befriedigende Antwort auf die seltsame Melange sein, die Europas Selbstzweifel und Todestrieb begründen, der sich nicht nur in materiell-biologischer Ausrottung seiner selbst äußert, sondern vor allem im Verrat seiner Ideale, seiner Geschichte, seiner Religion, seiner Kultur. Die schlimmsten Verirrungen finden innerhalb der europäischen Familie nicht in Deutschland oder Russland statt, sondern in Schweden: ein Land, das sich im Zweiten Weltkrieg neutral hielt. Der Deutsche glaubt immer wieder, dem einzigen Volk mit Schuldkult anzugehören, die Migrationskrise mit ihren wahnhaften Allüren ist für ihn Teil der Vergangenheitsbewältigung; wie aber mag diese Argumentation funktionieren, wenn er auf Schweden blickt, wo die historische Selbstverleugnung, die offene Annahme kulturfremder Migranten und „white guilt“ schon viel länger die kuriosesten Blüten getrieben hat? Der Frühneuzeitler könnte nur spotten, es müsste sich um Schuldtraumata aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges handeln …

Und was ist mit dem Ersten Weltkrieg, der „Urkatastrophe“ Europas? Überzeugt diese Ansicht, wenn man wieder auf die neutralen skandinavischen Länder blickt? Ja, der Erste Weltkrieg hatte gewaltige Konsequenzen, er ging bis tief ins Mark der Europäer. Er schuf Gräben, die teilweise bis heute nicht geheilt sind. Er bereitete die Gräuel des Zweiten Weltkrieges vor, mit allen Konsequenzen. Er krempelte Gesellschaften um, verschaffte der sozialistischen Ideologie den real-existierenden Weg. Aber auch er ist nur eine Folge, blickt man auf das historisch-geistige Mosaik.

Die Belle Èpoque, jene „schöne Epoche“ vor dem Weltkrieg um 1900 erscheint vielen als letzte Blütezeit Europas. Hier war die Welt noch in Ordnung. Es ist jene „Welt der Sicherheit“ vor dem Ausbruch des Chaos. Stefan Zweig hat sie mit blutendem Herzen nostalgisch verklärt. Womöglich tun wir dasselbe, wenn wir an das unzerstörte Europa mit seinen Alleen und historischen Fassaden, regelmäßigen Gottesdienstbesuch, kulturellem Reichtum und nationalen Stolz, fein angezogenen Herren und Damen auf sepiafarbenen Fotographien (man möchte Photographien schreiben!) vorstellen.

Der Grundfehler besteht darin, im Jahr 1914 einen harten Einschnitt zu sehen. Die „gute, alte Zeit“ der Ordnung täuscht darüber hinweg, dass schon damals vieles im Argen war. Es ist zugleich eine Zeit der Dekadenz und Orientierungslosigkeit. Die Massen waren von ihr jedoch noch nicht beeinflusst. Dass der Geist verirrt ist, zeigt sich zuerst in der Kunst; und obwohl die Menschen in Städten des Historismus und Klassizismus lebten, und der Jugendstil zaghaft in die Straßenzeilen Einzug hielt, zeigte die aktuelle Kunst bereits in eine andere Richtung. Architektur, Malerei und Literatur der damaligen Zeit sind Anhaltspunkte dafür, dass in der europäischen Gesellschaft um 1900 bereits einiges schief lief und die „Ordnung“ aus den Fugen geraten war. Einfältige stellen sich das späte Kaiserreich als autoritär-militaristischen Komplex und Ständestaat vor, der erst von der Revolution davongefegt wurde. Tatsächlich hat bereits Thomas Nipperdey in seinem Standardwerk (Deustche Geschichte 1800-1918) festgestellt, dass Deutschland um 1900 bereits eine so dynamische Gesellschaft war, dass die Umwandlung zu einer parlamentarischen Monarchie vermutlich ein notwendiger und nicht mehr aufzuhaltender Prozess war. Die Durchlässigkeit und Aufstiegschancen waren nicht schlechter (eher: besser) als in anderen Ländern. Der Militarismus war eine übliche Erscheinung wie auch in anderen europäischen Ländern der damaligen Zeit. Eine Anekdote meinerseits darf erlaubt sein: in der Bundesrepublik des Kalten Krieges waren prozentual mehr junge Männer unter Waffen als im Kaiserreich unter Wilhelm II.

Mittlerweile scheint das späte Kaiserreich näher an der Weimarer Republik als an Bismarcks Kanzlerschaft zu liegen. Ähnliches lässt sich auch in anderen Ländern festmachen. Das „Bild“ der 1900er Jahre entspricht in unseren Köpfen heute immer noch eher den 1880ern. Filmaufnahmen und Fotos, Romane und Musik aus dieser Zeit sprechen jedoch eine ganz eigene Sprache. Es handelt sich doch nicht um das Ende einer alten Zeit, sondern den Beginn … ja, von was eigentlich? Genauer betrachtet besteht um 1900 Ungewissheit darüber, was folgt. Der Fortschrittsgedanke ist noch lebendig, aber in der Kunst wird offenbar, dass die Richtung des Fortschritts unbekannt ist.

Gesellschaftlich dominiert ein Gefühl des laissez-faire. Die Menschen, die damals lebten, ähneln den heute geborenen nicht wenig: Hierarchien und Autoritäten haben für die junge Generation an Relevanz verloren. Die Suche nach „Neuem“ ist überall offenkundig. In den Sherlock-Holmes-Romanen hat nicht umsonst der Okkultismus Konjunktur; der Jugendstil ist eine Revolte gegen den Historismus in der Baukunst, ebenso wie die Neue Sachlichkeit, die bereits in den 1900ern konzipiert wird; in der Literatur finden wir Taugenichtse und Lebenskünstler, die sich im Sinne Musils „Mann ohne Eigenschaften“ irgendwie durch die Welt tricksen, aber kein eigentliches Ziel haben; in der Malerei brechen Cézanne, Braque und Co. schon vor dem Weltkrieg mit den Konventionen.

Kurz gesagt: schon vor dem Weltkrieg ist bei den Menschen etwas ins Rollen geraten. Eine Unsicherheit, die sich zuerst bei den Kulturschaffenden selbst äußert, also jener Schicht, die üblicherweise da ist, um das Sein zu reflektieren und das europäische Erbe weiterzutragen. Im Grunde hat sich Europa seitdem nur wenig geändert, das Problem nicht gelöst, verschoben und erstickt zunehmend daran. Die Kriege und Diktaturen auf europäischem Boden sollten dieser großen Orientierungslosigkeit ein Ende setzen, wieder Sinn geben, waren aber letztlich auch nur Übergangserscheinungen. Das Mittelalter und die Frühneuzeit kennen Gott, das 19. Jahrhundert die Nation, das 20. Jahrhundert das Ich. Es scheint, das mit dem Fortschreiten der Zeit das Zentrum immer weiter atomisiert, bis zuletzt, im 21. Jahrhundert, das reine Nichts übrig bleibt.

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