Hinweis: Dieser Text entspricht dem Stand vom 4. April 2017. Bis zur Veröffentlichungen können Änderungen eingetreten sein.
Sie haben sicherlich bereits vom „Pulse of Europe“ gehört. Menschen gehen sonntags zu einer bestimmten Uhrzeit auf die Straße und demonstrieren für die EU. Ja, auch ich musste diesen Satz zweimal lesen: FÜR die EU. Üblicherweise fallen Demonstrationen für Staatsgebilde eher in deren Endphase – die Ostblockstaaten lassen grüßen – aber selbst hier ist die EU wohl Vorreiter.
Nun denn: medial werden diese tapferen Menschen hervorgehoben, als handelte es sich um ein großes, „europäisches Phänomen“. In den Nachrichten wird umspannende Solidarität in „Europa“ bekundet. „Vielfalt“, „Zusammenhalt“ und „Toleranz“ dürfen als Parolen natürlich auch nicht fehlen. Man hatte „Wut im Bauch“ wegen Brexit und Trump-Wahl.* Nun ja – „Demokratie“ ist anscheinend keines der Themen dieser Bürgerbewegung, welche sich darüber mokiert, dass die übrigen Völker nicht so wählen, wie es den Deutschen passt.
Jetzt denken Sie: warum Deutsche? Es ist doch alles europäisch! Wieder ein: nun ja. Ich habe mir mal über Googlemaps angeschaut, wo die Veranstaltungen dieses „Pulse of Europe“ so stattfinden:
Die geographischen Kenntnisse der deutschen Wohlmeinenden sind ja immer sehr besonders gewesen. Europa ist mehr oder minder mit Deutschland gleichzusetzen. Während man sich also in preußischem Untertanengeist seinen neuen Oberherren zu Füßen wirft, scheint das im Rest des Abendlandes nicht so ganz der Fall zu sein. Zwar gibt es insbesondere in Südfrankreich einige Kundgebungen; ansonsten fällt auch in Frankreich, dem Land mit den zweitmeisten Veranstaltungen, die Gesamtzahl mau aus (7). In den Nachbarländern Österreich und Niederlande sind es gerade einmal 2 Veranstaltungen, in Luxemburg und Dänemark nur eine. Im EU-Vorzeigeland Belgien bleibt die Sache auf Brüssel beschränkt. Zudem sei erwähnt, dass die Teilnehmerzahlen eben nicht immer aus hunderten Personen bestehen, so war es in Madrid gerade einmal ein Grüppchen aus weniger als 100 Personen (die angegebenen 150 bis 200 Personen mag ich auf diesem Bild nicht erkennen).** Bei der Einrichtung der spanischen „Pulse of Europe“-Bewegung meldeten sich in den Kommentaren nur zwei Spanier, ansonsten Deutsche. Größte Ironie, als ein deutscher Kommentator den jungen Spaniern sagt, dass sie gerade wegen der hohen Arbeitslosigkeit jetzt für Europa sein müssten – sie hätten ja sonst nichts zu tun. Am europäischen Wesen …
Wenn Zeitungen daher von 40.000 Teilnehmern in 11 Ländern berichten, suggeriert dies ein völlig verkehrtes Bild von den wahren Zuständen. Der „Puls von Europa“ schlägt in Deutschland, aber einen Körper gibt es gar nicht. Die britische Bewegung hat nicht in London, sondern im beschaulichen Bath ein paar Unterstützer; in den europäischen Millionenmetropolen sind die Demonstranten kaum nennenswert. In Italien, Griechenland und den östlichen Staaten gibt es die Bewegung überhaupt nicht.
Heiko Maasens Liebe zur EU-Flagge, die jetzt die freie Welt verkörpere, ist also verständlich. Blöd nur, dass das „Europa“, das hier so lebendig hochgeputscht wird, an Rhein, Oder, Alpen und Belt bereits aufhört. Der deutsche Ungeist in europäischer Verpackung – begleitet von Fähnchen schwenkenden Personalien, die anscheinend nicht wissen, was sie tun.
Das Banner der freien Welt trägt heute keine stars and stripes mehr, sondern ist die Europafahne. #pulseofeurope https://t.co/daRsOpuxll pic.twitter.com/3aRhAgZIxr
— Heiko Maas (@HeikoMaas) March 24, 2017
Europa, Europa, über alles! Über alles in der Welt!***
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*Da sind sie wieder, die diffusen Ängste.
**Weitere Schlaglichter: Stockholm, Limoges, Cluny, Luxemburg und Montpellier mit weniger als 100, Galway mit 10 (!) Teilnehmern, Innsbruck und Kopenhagen mit unbekannter Teilnehmerzahl. Die größten außerdeutschen „Pulse of Europe“-Aktionen waren Paris und Wien mit vermutlich weniger als 300 Demonstranten. Früher hätte man so etwas mit „regionaler Bedeutung“ abgekanzelt.
***Nachtrag: Es wurde jetzt eine #pulseofeurope-Kundgebung in Pristina angemeldet. Im Kosovo. Einem Nicht-EU-Land.