Peter R. Neumann ist Politikwissenschaftler und Professor am Londoner King’s College. Als freier Rundfunkjournalist war er bei der Deutschen Welle. Auch er sattelte auf das vielberittene Pferd der Islamexperten auf, die in Zeiten des Terrors jener, die nichts mit all dem zu tun haben, besonders gefragt sind. Als solcher wertete er vor allem die sozialen Medien aus, um die dortige Dschihadisten-Szene zu analysieren; sein Schwerpunkt ruhte auf Twitter und Facebook.
Womöglich sollten diese Kompetenzen in nächster Zeit infrage gestellt werden. Was folgt, erscheint wie eine Petitesse; sie spricht aber Bände über das, was derzeit in einigen Etagen passiert, welche sich über den Pöbel erhaben fühlen, in Wahrheit aber selbst Pöbler sind. Denn nichts Edleres gibt es, als jene anzugreifen, die als Wegbereiter des Bösen gelten. In diesem Falle hieß der Ersatzluzifer Martin Sellner, seines Zeichens Ikone der Identitären Bewegung. Man mag sich zwar fragen, warum ein Experte für islamischen Terror sich in Zeiten von täglichen Vergewaltigungen, Morden, Anschlägen und anderen Bereicherungen eben jener Religion am Vertreter einer patriotischen Jugendorganisation mit schätzungsweise 300 Mitgliedern reibt, deren größtes Verbrechen im Verteilen von Pfefferspray, dem Aufhängen von Bannern und der zeitweiligen Besetzung von Sehenswürdigkeiten besteht; aber vermutlich wird mir ob solch rassistischer Fragestellungen und latent proto-faschistischer Gesinnung bereits das Bier in Köln verwehrt.
Himmel un Äd drüber. Entlarvung von Nazis gilt als Volkssport, und Sellner ist samt seiner Bewegung und dem Anhang von Schnellroda (Kubitschek und Lichtmesz inklusive) spätestens seit den Bednarz’schen Umtrieben ein Faszinosum der Quantitätsmedien. Was liegt also näher, als mit einem kurzen Säbelhieb auf einen Tweet von Sellner einzuschlagen? Die pathetische Wortwahl Sellners eignet sich da ganz hervorragend, um das Übel öffentlichkeitswirksam anzuprangern: seht her, ich bin nicht nur gegen Islamisten, sondern bekämpfe auch rechte Jungnazis!
Alt zu werden unter jugendlichen Völkern, scheint mir eine Lust, doch alt zu werden, da wo alles alt ist, scheint mir schlimmer, denn alles
— Martin Sellner (@Martin_Sellner) April 2, 2017
Also, schnell, rasch ans Werk!
Ha, betrunkener Faschist! Wie das durchgeht! Da haben wir es dem neuen Jungvolkführer aber gegeben. Die Sache hat leider nur einen Haken:
Der Tweet ist nur ein Zitat. Der Aphorismus, den Sellner da von sich gibt, stammt aus Friedrich Hölderlins Hyperion. Sellner hatte diesen einfach nur wiedergegeben. Hier die restliche Passage:
Zugleich erhielt ich einen Brief von Notara, worin er mir schrieb:
Den Tag, nachdem sie dir zum letzten Mal geschrieben, wurde sie ganz ruhig, sprach noch wenig Worte, sagte dann auch, daß sie lieber möcht im Feuer von der Erde scheiden, als begraben sein, und ihre Asche sollten wir in eine Urne sammeln, und in den Wald sie stellen, an den Ort, wo du, mein Teurer! ihr zuerst begegnet wärst. Bald darauf, da es anfing, dunkel zu werden, sagte sie uns gute Nacht, als wenn sie schlafen möcht, und schlug die Arme um ihr schönes Haupt; bis gegen Morgen hörten wir sie atmen. Da es dann ganz stille wurde und ich nichts mehr hörte, ging ich hin zu ihr und lauschte.
O Hyperion! was soll ich weiter sagen? Es war aus und unsre Klagen weckten sie nicht mehr.
Es ist ein furchtbares Geheimnis, daß ein solches Leben sterben soll und ich will es dir gestehn, ich selber habe weder Sinn noch Glauben, seit ich das mit ansah.
Doch immer besser ist ein schöner Tod, Hyperion! denn solch ein schläfrig Leben, wie das unsre nun ist.
Die Fliegen abzuwehren, das ist künftig unsre Arbeit und zu nagen an den Dingen der Welt, wie Kinder an der dürren Feigenwurzel, das ist endlich unsre Freude. Alt zu werden unter jugendlichen Völkern, scheint mir eine Lust, doch alt zu werden, da wo alles alt ist, scheint mir schlimmer, denn alles. –
Vor nicht allzu langer Zeit noch zitierte ich Friedell. Und genau darum geht es: plötzlich erscheint alles verdächtig. Alles, was nur ansatzweise rechts wirkt, was Rechte schreiben oder lesen, ja, was „rechts“ klingt – dahinter muss ein Faschist stecken. Es ist daher auch völlig uninteressant, ob Neumann den Hölderlin kennt oder nicht kennt: die Ungebildeten auf den Lehrstühlen, die Ahnungslosen in den Redaktionsstuben, die Ungeeigneten in den Parlamentssesseln finden immer einen Ruch an dem, was sie nicht verstehen und kennen – ein Vorwurf übrigens, den sie gerade den Rechten immer wieder vorwerfen. Was rechts klingt, das ist auch rechts. Und Hölderlin klingt wie Sellner, ergo muss dahinter ein „betrunkener Faschist“ stecken.
Wäre diese Blamage nicht genug, einen der großen Dichter und Denker der deutschen Geschichte (der Literatur wie Musik des 19. Jahrhunderts inspirierte wie nur wenige, und auch in Italien hochgeschätzt wird) schnurstracks zum Faschisten zu erklären, weil man sich mit deutscher Kultur nicht auskennt, rudert der Professor aus London nicht etwa zurück – sondern manövriert sich noch weiter ins Verderben:
Souverän geht anders. Statt das eigene Versagen zu erkennen und ruhig zu sein, fällt Neumann nichts anderes ein, als von der Ostmark zu faseln, und damit seine eigenen Klischees zu bedienen. Die Guten können nicht irren. Auch, wenn sie sich völlig lächerlich machen. Obwohl sie einen Jargon bedienen, der dem „Populismus“ alle Ehre machte und dabei so plump und unreflektiert vorgehen, wie sie es ihren Gegnern vorwerfen.
Und weil sich danach das Internet wie so oft über den Geschlagenen stürzt, wittert Neumann gleich eine Verschwörung:
Nein, nicht etwa die eigene Arroganz und die Überbewertung eigener Kompetenzen hat Neumann in diese Situation manövriert – sondern die bösen Freunde von Sellner, die ihn jetzt attackieren. „Die Russen waren es“, mag man hinzufügen. Der Mann hat sich gnadenlos blamiert, und macht genau das, was alle Leute seines Kalibers tun: Scheuklappen zu, Denkschablonen rein. Neumann bleibt nichts als zu plärren: „Trotzdem Faschist!“
Es ist dies das Schönste und Grässlichste am Internet zugleich: das Internet lässt das Beil absoluter Gleichheit hinabfahren. Auf 140 Zeichen entblößt sich ein Politikwissenschaftler, der in Fernsehstudios eingeladen wird und an einem der renommiertesten akademischen Institute Europas doziert. In Zeiten der Aufklärung rief man, dass es nur genüge, die Pfaffen und Fürsten zu entkleiden; unter ihrem Hermelin und ihrer Seide seien sie genauso nackt und bestückt wie der armselige Bauer auf seiner kleinen Scholle.
Die Angehörigen der höheren Stände tragen keine Kronen und Mitren mehr, aber sie laufen nackt durch die Datenläufe der großen Gleichmacherin. In eigener Selbstüberschätzung und völlig verblendet von Ideologie – im Glauben, das Werk der Guten zu verrichten – verrennen sie sich maßlos, wie sie es nie in der akademischen, politischen oder medialen Umgebung täten. Neumann wurde nicht herausgefordert. Er suchte den Angriff, er wollte Sellner lächerlich machen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass Sellner ein ebenbürtiger Diskussionspartner ist, oder sich als Professor vom King’s College in seiner Unbelesenheit deutscher Literatur selbst lächerlich machte.
Es ist diese Hybris, wie sie in allen Bereichen der „Elite“ zugegen ist. Und sie tritt jeden Tag und aller Orten stärker denn je zuvor. Jeder, der es sehen will, kann sehen, dass der Kaiser nackt ist. Solange das Internet nicht kontrolliert wird, werden solche Peinlichkeiten wahrgenommen; bricht kein Moderator das Gespräch mit dem Diskutanten ab; schneidet kein Zensor Textstellen aus dem Papier heraus.
Noch.