Der Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien

Nachdem in Düsseldorf kürzlich ein „Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien“ gefasst wurde, kann ich nun hoffentlich mit Fug und Recht darauf bestehen, ein „Bürger der einstigen Republik Venedig“ zu sein.
Mindestens.

13 Antworten

Herbert Wolkenspalter sagt:

14. März 2017 um 19:53 Uhr

Sie können bei soviel Drang nach Leben in der Vergangenheit vielleicht schon damit rechnen, sich bald einen Bürger des einstigen Italien nennen zu können. Dem geht es, glaube ich, auch schon ziemlich schlecht.

Ich mache mir gerade Gedanken, ob man aus der Vergangenheit heraus regieren könnte für die Gegenwart. Als Spiel vielleicht? Manches mag sich ja wiederholen und damit vorhersehbar sein, aber irgendwie gibt es da doch noch sowas wie einen zugrundeliegenden, möglicherweise schwer reversbilen Trend, der beschert, was es vorher noch nicht gab, während die Wiederholungen eine kleinere Modulation auf dieser Linie sind. Eine Gegenwärtigkeitsfrage. In die Vergangenheit kann man dafür zurückrechnen – während es (manche?) Historiker offenbar gerade umgekehrt machen.

Marco Gallina sagt:

14. März 2017 um 20:12 Uhr

In dem Sinne: oh nein, nein, ich bin ganz sicher, das „einstige Deutschland“ wird es noch vorher (nicht) geben. Schließen leben ja jetzt bereits nur die, die schon immer hier lebten, in diesem Land. 🙂

Herbert Wolkenspalter sagt:

14. März 2017 um 21:10 Uhr

Ach, das sagen doch nur die Politiker! Aber die sind heute auch schon fast von gestern.

Von wegen Italien. An den „Bürger der Republik Venedig“ hier: 😉
Da haben Sie sogar Chancen: http://www.miglioverde.eu/venezia-suo-121-doge-eletto-alberto-gardin/

Marco Gallina sagt:

14. März 2017 um 21:13 Uhr

Mir sind ja die verschiedenen Unabhängigkeitsbewegungen wohlbekannt. Diese Spalter arbeiten mal wieder ohne die Volksfront von Venetien und die Venezianische Volksfront für eine Freie Republik zusammen!

Marcipanus sagt:

15. März 2017 um 16:30 Uhr

Nach der letzten peinlichen Aktion ist von der Volksfront (FS-Kommando) eh nicht mehr viel übrig geblieben.
Was dagegen aus den Populären Venetern geworden ist – davon will ich gar nicht erst anfangen.

Herr K. hat in seinem Diarium eine ähnliche Frage gestellt: Ob es denn neben dem „ehemaligen“ Jugoslawien noch eine anderes gibt?

Nun aber meine Frage: Wäre es denn – um kollektiven Schuldzuschreibungen und pauschalen Vorverurteilungen aufgrund ethnischer/geographischer Herkunft Verdächtiger vorzubeugen – nicht besser, künftig nicht mehr von rechtsextremem (bzw. -populistischen, -radikalen etc.) Sachsen zu sprechen, sondern von (ggf. verwirrten und traumatisierten) Mitbürgern aus der ehemaligen DDR?

Lars sagt:

14. März 2017 um 20:52 Uhr

Ich lese gerade das Buch: Auf dem Weg ins Imperium“ von David Engels, zwar schon vier Jahre alt und zuerst in Frankreich erschienen. Ein Viertel vom Werk habe ich gelesen, die aufgezeigten Ähnlichkeiten zwischen Europa und der untergegangenen Römischen Repuplik sind jedoch beängstigent. Das Buch scheint hochaktuell und ja, mit dem Wissen über die Vergangenheit lässt sich leider in die Zukunft schauen.

Marco Gallina sagt:

14. März 2017 um 21:01 Uhr

David Engels war hier ja bereits zweimal Thema. Morgen übrigens wieder. 😉

Herbert Wolkenspalter sagt:

14. März 2017 um 22:00 Uhr

Ich will die Ernsthaftigkeit nicht stören – aber wenn man aus heutiger Sicht ein Buch über die Vergangenheit schreibt, könnten schon mal Projektionen aus der Gegenwart in die Vergangenheit einfließen. So wird jede „Gegenprüfung“ einer Wiederholung stimmig. Wenn die Fakes und das Postfaktische gar keine neuen Erfindungen sein sollten, dann fragt sich vor allem, welche alternativen Medien, die es damals nicht gab oder vom Regenten verschwinden gelassen wurden, etwas Anderes erzählt hätten. Kunterbunt war auch schon Rom – spätestens als die Christen kamen 🙂

Marco Gallina sagt:

14. März 2017 um 22:07 Uhr

Auf die augusteische Propaganda gehen aber die meisten Althistoriker stets ein. U. a. ist die römische Geschichtsschreibung ja selten „kaiserlich“ als vielmehr „senatorisch“. Wir haben gewissermaßen oftmals sogar die eher kaiserkritischen Werke (weshalb uns auch ein oft negatives Bild von Kaisern tradiert wurde, die senatorfeindlich waren; bez. Christen denken Sie mal an Ammianus, der christenkritisch war und uns den heidnischen Apostata positiv überliefert, obwohl vermutlich gar nicht das Hauptbild „offizieller“ christlicher Geschichtsschreibung). Ich glaube, Sie unterstellen unserer Zunft doch etwas zu viel an Gutgläubigkeit.

Marco Gallina sagt:

14. März 2017 um 22:25 Uhr

Nicht persönlich nehmen, Herr Wolkenspalter, aber Sie gehen selbst mit einer Projektion an die Vergangenheit ran – nämlich, dass Schriftquellen Kern der Propaganda waren. Das waren sie freilich nicht; wir gehen aber davon aus, weil wir seit der Reformationszeit und dem Buchdruck daran gewöhnt sind, dass die Schrift Hauptbestandteil der Propaganda ist. Das war in der Antike und Mittelalter aber nicht der Fall, da der Zirkel der Gelehrten sehr klein war. Die röm. Geschichtsschreibung galt der gebildeten senatorischen Oberschicht, die eher kaiserkritisch war, und Historiker kamen häufig aus dem Milieu, das den Verlust der eigenen Macht nicht so ganz verkraften konnte. An Tacitus und seinen Germanen können Sie das exemplarisch beobachten. Es ist eine einzige Zeitkritik.

Einfach gesagt: was für einen Zweck haben denn Schriften in der Propaganda, wenn das Publikum eng ist? Der Herrscher gewinnt die Masse nicht durch Schriften, die ja nicht nur für einen (un)bestimmten Teil wegen Analphabetismus unlesbar waren, sondern auch in ihrer Stilistik und Grammatik von so hoher Qualität, dass sie selbst dem Handwerker vermutlich unverständlich blieben (Diskrepanzen zwischen Vulgärsprache und Latein sind uns seit Cäsar bekannt – schon angefangen bei der Aussprache). Heißt: im Zweifelsfall hat schon der Bäcker in der Subura ein Problem, den Text eines Ammianus oder Tacitus überhaupt zu verstehen, so, wie ein heutiger Hauptschulabschlüssler eben auch nicht direkt einen wissenschaftlichen Fachtext durchdringt; mit der erschwerenden Angelegenheit, dass man in der Schriftsprache Anachronismen pflegt. Historische Texte sind den Großteil der Menschheitsgeschichte über von der Elite für die Elite geschrieben. In Rom sogar mit dem Paradoxon, dass diese eine starke regierungskritische Komponente hat.

Das ist auch den Mächtigen bekannt. Die gewinnen das Volk durch „Gaben“, durch Denkmäler, durch Statuen und Monumente. Herrschaft wird durch Masse und Materie sichtbar. Ob in Mausoleen, Standbildern oder Kathedralen. Das ist die Art, das Volk für sich zu gewinnen. Das hat Priorität. Deswegen werden bspw. bis zur frz. Revolution auch von den Autoritäten kaum Bücher von Voltaire oder Rousseau, oder anderen „staatskritischen“ Personalien zensiert oder verboten – verboten werden Flugblätter und Schriften von höchstens 50 Seiten. Die sind gefährlich, weil nur Gebildete sich die Zeit nehmen können, ein langes, intellektuelles Buch zu lesen. Auch in der Renaissance hatte man mehr Angst vor Machiavellis „Principe“ als vor den Discorsi, weil ersteres in einer Stunde lesbar war.

Die Forschung ist sich zudem sehr bewusst, welche Autoren nah verbandelt mit der Regierung waren, welche nicht. Wie gesagt; das Problem ist ja nun kein neues. Daher ist das Handwerk des Historikers nicht zuletzt der Quellenvergleich. Müssten wir unser Weltbild über die Stadtkommunen Italiens von Otto von Freising herleiten, hätten wir ein ziemliches Problem. Wir wüssten dennoch, dass diese Fremdprojektion wohl kaum der Wirklichkeit entsprochen hätte.

Herbert Wolkenspalter sagt:

15. März 2017 um 2:06 Uhr

Habe ich richtig verstanden, Herr Gallina, dass alte Quellen (mir egal welchen Alters) KEINE zurechtgerückten Wahrheiten zugrundeliegen? Nein, sicher habe ich das falsch verstanden – sonst müsste ich schallend lachen.

Irgendwie sind doch fast Alle Partei, ob als Herrscher, deren angewiesene Schreiber oder deren Kritiker. Und wo es Kritiker gibt, falls zugelassen, gibt es sicher auch die Aussagen von Herrschern dazu, die sich dann von Ersterem unterscheiden. Welches stimmt nun? Die Zahl der jeweiligen Anhänger ist sicher nicht entscheidend, auch nicht das Quantum an Verbreitung (wir lernen das gerade heutzutage). Wenn sich nach der Auffassung von Historikern alles Mögliche wiederholt, dann denke ich nicht zuletzt an „Lügenpresse“, auch wenn es kein Papier ist. Man kann mich gerne von Anderem überzeugen – aber bitte nicht auf Basis von Material, dass ebensogut mein Zeuge sein könnte, weil es ja erst mal um den Wahrheitsgehalt dieses Materials selber geht.

Mir ist durchaus geläufig, dass die Alphabetisierung eine eher späte Errungenschaft ist. Das schränkt auf jeden Fall den Kreis der Augen stark ein, die überhaupt Dokumente hinterlassen konnten. Hätten die damals schon Facebook gehabt… Wir kennen die Möglichkeiten und den Unterschied zum Mainstream. Und was ändert es an den Absichten historischer Darstellungen, außer dass sie nur kleinere aber umso einflussreichere Kreise lenken sollten? (Demokratien kosten dagegen eine Menge Energie, fällt mir gerade ein.)

Worauf ich in aller Ernsthaftigkeit hinaus will, ist das Phänomen, dass verschiedene Leute die Welt mit „verschiedenen Augen“ sehen und von verschiedenen Überzeugungen motiviert sind. Was die Wahrheitsfindung und einen Konsens darüber heute schon schwer macht, wo Alles direkt vor unserer Nase liegt und im Grunde für Alle dasselbe ist. Um wieviel unsicherer muss man sein, wenn man es nur aus zeitlichem Abstand und mit einem allerwinzigsten Bruchteil der „Sicht“ angehen kann als wenn man aktuell mittendrin steht. Was sind schon 100 alte Quellen, wenn ich an einem Tag in der Gegenwart 100.000 Eindrücke habe, sobald ich nur nach draußen gehe.

Marco Gallina sagt:

15. März 2017 um 8:05 Uhr

Ja, aber Sie tun so, als ob wir Historiker das nicht wüssten, wenn wir unseren Thukydides, unseren Tacitus, unseren Machiavelli oder sonst wen lesen. 😉

Und nein, ich halte die damalige Zeit für weit „alternativer“ als heute. Sie vergessen, dass der Zugriff des Staates damals weitaus geringer war als heute. Die Regierung war nicht allmächtig. Besonders nicht im Mittelalter, wo königliche Macht bspw. nur da war, wo der König war. Es gab keine totale Kontrolle. Die gibt es heute wegen Facebook, nicht trotz.

Das Phänomen der 100.000 Eindrücke ist ja nun auch kein Neues. Das war schon Burckhardt bekannt. Der zuletzt darüber verzweifelte.

Herbert Wolkenspalter sagt:

15. März 2017 um 12:56 Uhr

Ja, auch gut, dass Sie das wissen, aber wie gehen Sie damit um und ordnen es ein? Die Frage ist dieselbe: Ist es schwerer die Wahrheit des Gegenwärtigen herauszufinden (woran Burckhardt schon verzweifelt) oder die der Vergangenheit? Und was hat dies für Konsequenzen hinsichtlich der Sicherheit, mit der man Aussagen machen kann?

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