Lesermeldungen zu Luther, der Reformation und Befangenheit

10. Februar 2017
Kategorie: Europa | Freiheit | Historisches | Ironie | Italianità und Deutschtum | Lesermeldung | Machiavelli | Persönliches | Venedig

Mich erreichen nicht seit neuester Zeit, aber über einen langen Zeitraum Leserhinweise, Emailnachrichten, Kommentare, aber auch Meldungen auf Facebook, ich verlöre bei Beiträgen zum Themenbereich der Reformation meine Contenance, mein sonst gerechtes Urteilsvermögen oder sei schlichtweg befangen, weil es gegen „meine“ katholische Kirche gehe. Die Absender sollen sich hier nicht persönlich betroffen sehen, es soll vielmehr eine allgemeine Erläuterung sein, auf die ich im Nachhinein auch verlinken kann, weil ich mich leider ungern wiederhole.

Zuerst einmal möchte ich den Vorwurf ausräumen, ich stände der Reformation so kritisch gegenüber, weil es mich als Katholik träfe. Das stimmt so nicht. Natürlich bin ich auch als Katholik darüber nicht gerade glücklich, es wäre aber falsch, deswegen anzunehmen, mir sei per se alles Lutherische, Calvinistische, Zwinglianische etc. zuwider. Wenn man mir Befangenheit vorwerfen will, dann wohl eher, weil ich die Renaissance verehre, diese nicht nur als Zenit ansehe, sondern mich mental am meisten mit diesem Zeitalter identifizieren kann. Tizian, Leonardo, Maximilian I., Columbus, ja, selbst meine literarischen Fiktionen aus dieser Epoche umgeben mich tagtäglich, manchmal mag ich meinen: stündlich, dass all dies zu meinem Leben gehört wie die Luft zum Atmen. Es gibt sinnigerweise in diesem Diarium eine Kategorie für Antike und für Mittelalter, aber keine für die Frühe Neuzeit, weil diese für mich so selbstverständlich ist, und auf diesen virtuellen Seiten immer wieder abgehandelt wird, dass sich eine solche Kategorisierung erübrigt. Sie brächte nichts, weil Dauerthema, weil Lebensgefühl, weil durch Venedig, durch Machiavelli, durch Renaissancebilder immer wieder ins Spiel gebracht.

Wenn man aber die Renaissance liebt, dann weiß man auch, wie diese Epoche zu Ende ging. Man kennt die Abgründe, den Wahn, die Kriege und sieht sich wie Niccolò dem Verhängnis gegenüber, das man irgendwie nicht zu ändern vermag. Man kann es akzeptieren, muss es zwangsläufig; aber ich kann kaum verschweigen, wie dieses Goldene Zeitalter Europas sein Ende fand. Die Renaissance endet da, wo die Reformation beginnt. Ich bin also eher ein Römer, der den Fall Westroms beklagt, und mag mir das auch nicht mit Hinweis auf die doch recht angenehme germanische Herrschaft in Italien vertrösten. Zuletzt: Burckhardt und Nietzsche waren auch keine Gegner Luthers und Liebhaber der Renaissance, weil sie etwa besonders katholisch gewesen wären.

Soweit zur möglichen Befangenheit, die aber – wie ich finde – recht nachvollziehbare Gründe hat, und sich auch mit historischen Fakten erhärten lässt. Ich hatte bereits in einer Kritik des Schümer-Artikel sehr deutlich gemacht, was der Unterschied zwischen der Epoche der Renaissance und jener der Reformation ist, und warum letzteres gerade als finsteres Zeitalter angesehen werden kann (immer noch: ironisch!). In katholischen Kreisen habe ich mir außerdem anhören dürfen, dass ich den Luther sogar zu sanft anfasste – ich bin und bleibe der Meinung, dass es allzu platt wäre, alle negativen Eigenschaften der deutschen Geistesentwicklungen auf ihn zurückzuführen, vielmehr ist doch gerade Luther im Gegenteil eine typische Erscheinung des deutschen Geistes. Ebenso war der Mann kein Antisemit, wie überall kolportiert wird, sondern ein Antijudaist, eine feine Unterscheidung, die heute kaum noch jemandem gelingt. Das ändert nichts daran, dass ich dem protestantischen Propheten einen recht kritischen Artikel widmete, der aber im Vergleich zu Poseners Kritik in der Welt unglaublich weich anmutet.

Was dort steht, ist auch vornehmlich eine historische und philosophische Kritik, die das beinhaltet, was mir tatsächlich missfällt, wenn wir auf die Reformation zu sprechen kommt. Mir geht weniger Luther oder sein Konglomerat von Mitreformatoren, oder die Abspaltung als solche gegen den Strich – das wäre für einen Historiker höchst kontrafaktisch – sondern deren Verklärung. Darum geht es, und das war letztlich auch die Kernaussage des letzten Stichs: nämlich, dass die protestantischen Fürsten, welche die katholischen Kirchenfürsten beerbten, keinen Deut besser waren. Wie auch, bei dem Zeitalter! Wer Moral in Machiavellis Lebensphase sucht, der ist an Naivität kaum zu überbieten.

Obwohl ich einige Topoi in den bereits verlinkten Artikeln angesprochen habe, möchte ich sie hier noch einmal ausbreiten:

These I: Die Reformation hat mitnichten etwas mit Fortschritt zu tun. Sie war als absolutes Gegenteil gedacht. Re-formen heißt, etwas in alte (gute) Formen zurückzuführen. Die meisten Reformatoren, vor allem Luther, Zwingli und Calvin waren im Grunde mittelalterliche Menschen, die mit der „Neuen Zeit“ nichts anfangen konnten.

These II: Die Katholiken haben vor der Reformation nicht im Dunkeln gelebt. Thomas von Aquin und die übrigen Scholastiker haben schon Jahrhunderte vorher philosophiert, und das recht frei. Die Reformation konnte ganz im Gegenteil erst auf der Renaissance aufbauen, weil ein freiheitliches Klima und ein intellektueller Austausch herrschten, wie ihn Europa vorher nicht gekannt hatte. Das war vor Luther in Italien seit bereits 200 Jahren der Fall.

These III: Individuelle Freiheit wie auch territoriale Unabhängigkeit sind bereits vor der Renaissance entstanden. Deshalb heißt es in Italien nicht umsonst „Renaissance-Humanismus“, weil hier der Mensch in den Mittelpunkt rückt. Die Reformation, die mit Ideen der „Prädestination“ oder der Verneinung des Freien Willens und der Vernunft argumentierte, war ein Rückschritt hinter diese Ideen.

These IV: Die katholische Kirche war nicht wissenschaftsfeindlich, sondern das komplette Gegenteil. Die bedeutendsten Mathematiker, Geographen, Astronomen und Kartographen fanden sich am päpstlichen Hof ein. Der erste Globus der Neuzeit stand ein halbes Jahrhundert vor dem legendären Thesenschlag im Apostolischen Palast.

These V: Die Reformation war keine Volksbewegung, sondern eine Sache der intellektuellen Eliten, derer sich die Fürsten bedienten, um die eigene Macht auszubauen. Noch lange blieben Sitten und Bräuche auf dem Land erhalten, obwohl offiziell protestantische Gebiete. Die oftmals klammen Fürsten bedienten sich dabei opportunistisch der Reformatoren, um nicht zuletzt Zugriff auf Kirchengut zu erhalten und die Schatzkammer zu füllen.

These VI: Die Reformation war auch keine Stärkung „der Deutschen“ gegenüber dem Ausland (Rom), sondern eine interne Schwächung der Reichsstruktur. Die Zersplitterung in drei Konfessionen in den hunderten Territorien des Reiches führte zu Zank und Streit und legitimierten Entthronungen, Verbannungen, Ansprüche und Kriege. Es schwächte aber vor allem die Lage des (katholischen) Kaisers. Auf Reichstagen mussten Kompromisse zwischen den Lagern geschlossen werden. Die nicht-katholischen Fürsten schmiedeten mit ausländischen Glaubensbrüdern Bündnisse, aus Angst vor dem Kaiser, der seine Macht im 17. Jahrhundert ausweiten und den Reichsverband stärken wollte – was im 30jährigen Krieg, samt katastrophaler schwedischer Intervention mündete.
Kurz: es ist eine der größten Kunstkniffe der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung, jedes einzelne mittelalterliche Privileg heranzuziehen, welches die „Zersplitterung“ des Reiches verursacht hätte, aber mit keinem Wort die mit Abstand größte Katastrophe für das Reich, nämlich dessen Zerfall in katholische und evangelische Interessengemeinschaften, klar zu benennen.

These VII: Die Reformation schwächte die christlichen Reiche insgesamt, da die großen Schutzmächte (Österreich, Spanien), nun mehr mit ihren ehemaligen Glaubensbrüdern zu kämpfen hatten (England, Niederlande, Schweden etc.), als sich in einer Front gegen die islamische Bedrohung wenden zu können. Insbesondere die Kräfte Spaniens, der wichtigsten christlichen Macht im Mittelmeer, wurden langfristig gebunden und konnten nicht mit voller Stärke gegen die Osmanen eingesetzt werden.

These VIII: Die Reformation hatte erheblichen Anteil an den Auswüchsen des Hexenwahns, da katholische Organisationen entscheidend geschwächt wurden. Wo die Inquisition stark war – Spanien, Italien – kam es so gut wie zu keinem Hexenprozess. Hexerei galt als Aberglaube, und damit ketzerisch. Wo kein Inquisitor, da herrschte der Mob. Besonders kurios: aufgrund des Hexenwahns im Reich in protestantischen Gebieten sahen sich insbesondere die Erzbischöfe unter Druck, da die eigenen Untertanen diesen vorwarfen, nicht gegen die Hexenbedrohung vorzugehen, weshalb man wiederum die Nachbarn in der Hexenjagd überbieten wollte.

These IX: Es gab keine irgendwie geartete, moralische Verbesserung bezüglich der Moral in der Kirche. Wie oben erwähnt: die Menschen der Renaissance waren dem Leben zugewandt. Es waren erst die Bemühungen der Reformation und schließlich der Gegenreformation, diese Sitten wiederherzustellen, was aber erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu Erfolgen führte. Genau das war aber verhängnisvoll: nunmehr verhärteten sich die ideologischen Gräben, und aus vorherigem Laissez-faire wurden jene erbitterten Glaubenskämpfe, wie wir sie kennen.

These IX.5: Die wahnhafte Zerstörung von Kunst und Kultur durch Ikonoklasten, insbesondere aufseiten der Calvinisten, kann kaum als Indiz für irgendeine Toleranz oder aufklärerische Tendenzen der Reformation gewertet werden.

(Und nein, die Liste entstand ganz unabhängig von Posener, denn so viel Originalität und Wissen braucht es dazu nicht.)

Das sind nur die ersten Punkte, die mir just einfallen. Es dürfte auffallen, dass es sich durchweg um historisch-politische Betrachtungen handelt, die man auch nach kurzer Recherche so belegt finden kann. Dennoch lese ich besonders in diesem Lutherjahr immer wieder das verquere Gegenteil dessen, was verbürgt ist. Teilweise wird dies auch den Reformatoren selbst nicht gerecht – erzählte man denen, sie hätten Fortschritt, Aufklärung und Individuum gewolt, wäre das in etwa so, als unterstellte man dasselbe heutigen Salafisten.

Wobei ich befürchte, mit letzterem Vergleich mir wieder keine Freunde gemacht zu haben.

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