Es raschelt mal wieder im Massenstrom der Quantitätsblätter. Allerlei Merkwürdiges findet sich da, seitdem Martin Schulz sich bereit erklärt hat, für die SPD in den Kampf zu ziehen und die Schwiegermutti zu erlegen. Wir lesen kluge Analysen, demnach Schulz in der Beliebtheit ähnliche Werte wie Merkel erreichte, dass Schulz der unbequemere Gegner sei, dieser wegen seiner „Unbekanntheit“ eine Gefahr sein könnte, ja, sogar als „Alternative“ gälte (Zeit). Schulz sei ein „feinfühliger Polit-Berserker“, der sich selbst aus dem Sumpf gezogen habe, man dürfe sich auf einen munteren Wahlkampf freuen, denn Schulz sei „authentisch“ – die Süddeutsche verirrt sich in panegyrischen Hymnen. Es ist dies jene Kunst der Massenmedien, bei denen man vor Neid erblassen könnte: Offensichtliches zu negieren, vergessen zu machen wollen und eine neue Wirklichkeit zu spinnen.
Plötzlich tut ein nicht geringer Teil des Zeitungspanoktikums so, als sei Schulz ein neuer, ein Unbekannter, einer, der aus dem Nichts käme. Ganz abgesehen davon, dass der jahrelang in der EU dienende Schulz so gar kein unbeschriebenes Blatt ist – es ist genau jener Mythos, den die Erzählung sich selbst herbeischreiben will, um wieder einmal eine eigene, gemütliche, mit Watte behaftete Traumwelt einzurichten. Ähnliches geschah schon im US-Wahlkampf: da wurde aus der Ikone des Ostküstenestablishments mit ihrer millionenschweren Stiftung, ihrem außenpolitischen Versagen, ihrem dubiosen Emailverkehr und wechselhaften Ankündigungen (vulgo: Lügen) eine fürsorgliche Mutter aus dem Mittelstand gemacht, die nie in irgendwelche Affären verwickelt war und zugleich mit allen politischen Wassern gewaschen. Aus dem tatsächlichen Außenseiter strickte man sich einen großkotzigen Rassisten, der seine Milliarden (so es denn überhaupt welche waren) ganz schändlich erworben hatte, sich dazu als Frauenhasser und Lügner auszeichnete.
Allein der ganz einfache Fakt in diesen postfaktischen Zeiten, dass auch der größte Medienmythos heute nicht mehr zieht, wenn das Volk die Presse nicht mehr als unabhängige Aufklärer, sondern parteinahe Vertrüber wahrnimmt, sollte die Journaille Teutoniens vorsichtiger machen. Doch so, wie die Kanonen weiterhin transatlantisch ausgerichtet werden, scheint man auch den deutschen Michel hierzulande immer noch belehren zu wollen, was er zu glauben hat. Bei so vielen latenten Deutschtümlern, die vor lauter Verblendung die gefährlichen Parallelen nicht mehr erkennen, kommt einem glatt Heine in den Sinn:
Man schläft sehr gut und träumt auch gut
In unseren Federbetten.
Hier fühlt die deutsche Seele sich frei
Von allen Erdenketten.
[…]
Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten,
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten.
Ob Trump, Brexit, AfD oder nun auch Schulz: im Spektrum der fünf Phasen der Trauer (Negation, Wut, Verhandlung, Verzweiflung, Akzeptanz) schlingert die Medienlandschaft stets zwischen Phase I und II, deutet kurz Phase IV an, bevor sie wieder geordnet zu Phase I zurückfindet. Das Modell trägt wohl nicht umsonst auch jenen Namen der „Sterbephasen“. Womöglich drängt etwas im tieferen Unterbewusstsein der Journalisten durch, und erwartet den baldigen Tod. In den USA ist die Irrelevanz der Medien bereits weiter vorangeschritten und wird bewusster wahrgenommen.
Da in Deutschland aber alles zehn Jahre länger braucht als in Amerika, beschäftigen wir uns einmal genauer mit Schulz und seinen Vorzügen oder denen, die man ihm andichtet. Insbesondere die Sympathiewerte muten merkwürdig an; jeder, der nur eine Rezension der Will-Sendung gesehen hat, in der Schulz eine Stunde lang den Deutschen schmackhaft gemacht wurde, konnte „live“ sehen, wie sympathisch „Martin“ war. Schulz fuhr Will über den Mund, versprach dies und jenes, forderte, sprach vom kleinen Mann und gab einfache Lösungen vor. Populismus gepaart mit Grotzkotzigkeit – aber quid licet Iovi, non licet bovi. Das Rindviech Trump ist daher ein Egomane, der Schulz „einer von uns“, der mal endlich sagt, was Sache ist. Gegenüber einem tausende Meilen entfernten Präsidenten empört man sich lieber, als dem Kanzlerkandidaten gegenüber kritische Fragen zu stellen. Der inszenierte Applaus kann jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass das Programm von Martin Schulz vor allem Martin Schulz lautet.
Die peinliche Schalterumlegung zugunsten sozialdemokratischer Entzückung fiel wohl selbst dem Spiegel auf, der einzig bei der FAZ (wie von Hanfeld oben) kritische Stimmen ausmachte. Das hinderte dieselbe Zeitschrift natürlich nicht daran, ein vielsagendes Cover auf die aktuelle Ausgabe zu setzen. Wieder andere versuchten ihre medialen Konkurrenten zu übertrumpfen, wenn sie Umfragen brachten, welche nicht nur Schulz gegenüber Merkel, sondern auch die SPD gegenüber der Union in Führung sahen.
Was vermutlich mehr über die Machterosion der Kanzlerin und ihres Wahlvereins aussagt, als über den Kanzlerkandidaten.
Was bleibt aber von Schulz, wenn wir den völlig unbekannten Martin, der derzeit überall über die Bildschirme flimmert, genau ansehen? Mittlerweile scheint es tatsächlich so, dass Merkel als verletztes Tier am Boden liegt. Die Geier kreisen. Sonst wäre der Freudentrubel kaum zu erklären, auch bei jenen, welche die Kanzlerin in all den Jahren auch bei den größten Fehlern unterstützt haben – oder vermutlich auch gerade weil die eigentlich eher linksliberale Presse ihre Projekte bedient sah, und nun wieder das Original wählt, da sich die passende Alternative ankündigt. Das Rot-Rot-Grüne Traumprojekt scheint greifbar.
Aber das ist bloßer Traum. Es ist eher unwahrscheinlich, dass das linke Lager bei der nächsten Bundestagswahl koalitionsfähig wird. Halten wir uns vor Augen, dass aufgrund des deutschen Wahlrechts nahezu 10% der Gesamtwähler vom Parlament ausgeschlossen wurden, da FDP und AfD knapp an den Wahlurnen scheiterten. Es ist damit zu rechnen, dass beide bei dieser Wahl wieder ins Parlament einziehen werden; einerseits, weil die AfD weiterhin im Aufwind ist und andererseits, weil viele CDU-Wähler, die mit Merkel unzufrieden sind, ihr Kreuz bei der FDP machen werden, weil sie sich nicht zur AfD durchringen können. AfD und FDP dürften zusammen ca. 15% erreichen, die Union selbst im schlimmsten Falle mindestens 30% bekommen. Dem rechten Lager sind mindestens (!) 45% sicher. Die Hürde muss Rot-Rot-Grün erst einmal nehmen. Dass die SPD innerhalb einer Woche um acht Prozentpunkte gestiegen sein soll, kann – ehrlich gesagt – niemand glauben. Selbst in einem realistischen Szenario dürften die Sozialdemokraten bei 25%, Linke und Grüne höchstens (!) bei 10% liegen. Das sind ebenfalls 45%, aber eben bereits die angenommenen Maximalwerte.
Dass Rot-Rot-Grün beschworen wird, hat den einfachen Grund, dass beide Großparteien und ihre journalistischen Vertreter die Möglichkeit an die Wand malen; von der Union als Schreckgespenst, um Wähler zu binden und nicht an die AfD zu verlieren; von den Sozialdemokraten als letzter Strohhalm, um nach Jahren wieder aus eigener Kraft den Kanzler zu stellen. Das Szenario ist damit das letzte Schattenspiel der alten Bundesrepublik, um den Michel dazu zu bringen, wieder die bewährten Altparteien zu wählen.
Was die positiven Umfragewerte für Schulz angeht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch FDP-, AfD- und CSU-Wähler vermutlich bei dieser Frage nicht die Kanzlerin unterstützt hätten, und bei mindestens zwei dieser drei Parteien dürfte Schulz als das geringere Übel gelten. Dieselben Wähler werden aber die SPD nicht wählen, ebenso wenig wie die linksgrünen Wähler, die jahrelang „Mutti“ sympathisch fanden und meinten, sie mache „einen guten Job“, am Ende jedoch dann erneut das Kreuz bei SPD und Grünen setzten.
Neben diesen ernüchternden Fakten, welche den „Schulz-Train“ bereits einen Bremser versetzen dürften, mutet auch die jetzige Kampagne reichlich aufgesetzt und naiv an. Das mag im linken Lager wirken, wo man versucht, den Wahlkampf der Altright zu kopieren, indem man mit Internetmemes und möglichst positiven Botschaften den eigenen Kandidaten völlig überzeichnet und überhöht, den Gegenkandidaten dafür wiederum in (qualitativ zweifelhaften) Comics diskreditiert. Passend, dass die Sozialisten das planwirtschaftlich von höchster Stelle organisieren lassen. Es erinnert an den peinlichen Versuch des hessischen Spitzenkandidaten Schäfer-Gümbel, der in der tiefsten Provinz den Obama spielen wollte.
Die Kampagne verlief katastrophal. Die SPD versucht den amerikanischen Wahlkampf zu kopieren, ohne Basiskenntnisse über eben jene Art der Kriegsführung. Dass Obama und Trump gewannen, war nicht nur auf die Manager der Wahlkampagnen zurückzuführen, sondern vor allem auf die freien Helfer, also jene Desperados da draußen im Internet, die tagtäglich die Reichweite der politischen Botschaft auf humorvolle, manchmal überspitzte oder beleidigende Weise verbreiten. Kurz: freies Spiel der Kräfte im Gegensatz zur alten Tante SPD, die sich jetzt ein hippes Kostüm anlegen will. Die Kreativität und Initiative liegt eben lange nicht mehr „links“, sie ist im Zuge von Memes wie dem Gottkaiser Trump oder dem Frosch Pepe längst bei der politischen Rechten angekommen. Die Zeit linker Liedermacher ist vorbei. Es ist dies jenes Symptom der abwirtschaftenden Linke, die sich immer für avantgardistisch, intellektuell und kreativ hält, aber in Wirklichkeit so politisch korrekt geworden ist, dass sie mit der ihr eigenen Biederkeit keinen Blumentopf gewinnen kann. Originalität und Ironie finden sich in den sozialdemokratischen Plagiatsversuchen nicht. Die Rebellen – ob Breitbart, ob Milo, ob Garrison – stehen alle rechts der politischen Mitte. Der Appell hunderter bekannter Hollywoodstars, die aber allesamt dem linken Establishment zugezählt werden, konnte nichts gegen die anarchische Kraft unzähliger freiwilliger Trump-Supporter unternehmen, die den Witz und die Initiative auf ihrer Seite hatten.
Der SPD, in ihrer fast ausgestorbenen Saurierhaftigkeit, wäre zuzutrauen, dass sie bar jedweder Wahlkampferfahrung Til Schweiger aufstellt, der mit Schulz posierend „I’m with him“ von sich geben würde.
Vielleicht kommen diese Posen im eigenen Lager an. Vielleicht kann die SPD damit eingeschlafene Wähler, so sie noch nicht den Weg alles Diesseitigen gegangen sind, noch einmal aus dem Schaukelstuhl hervorlocken. De facto verlieren bereits jetzt die Grünen und die Linkspartei Stimmen an die SPD. Das ist ein Anfang. Die SPD wird dieses Jahr mit Sicherheit ein besseres Wahlergebnis einfahren als bei den letzten Wahlen, und das dürfte die eigentliche Taktik sein: so an Gewicht hinzugewinnen, um Merkel unter Druck zu setzen. Um aber zu siegen, muss die SPD nicht Leute aus dem eigenen Lager gewinnen, sondern auf der anderen Seite der Mitte, und das ist mit diesem Kindergarten nicht zu machen – rechts von der Mitte will man law&order und deutliche Antworten auf die derzeitigen Sicherheitsprobleme. Sicherheit war aber noch nie ein positiv mit dem linken Lager assoziiertes Thema.
Schulz redet oft vom kleinen Mann und von Gerechtigkeit. Die Klientel der SPD, die in den Problemvierteln des Ruhrgebiets, Frankfurts oder Kölns daheim ist, wo die linke Multi-Kulti-Ideologie vor allem diesen „kleinen Mann“ bedrängt, dürfte das aber als Hohn empfinden. Ein Gros der AfD-Wähler sind eben jene Kleinbürger, die früher jahrelang die SPD wählten. Es ist überdies derselbe Schulz, dem sein Migrantenspruch – „Was die Flüchtlinge uns bringen, ist wertvoller als Gold“ – noch auf die Füße fallen könnte. Schulz hatte ihn damals als EU-Parlamentspräsident getätigt.
Auch diese Position wird in den Medien seit kürzester Zeit völlig anders gedeutet als früher – und das gleich mehrfach. Zuerst in der Hinsicht, dass Schulz ein Unbekannter von außen sei, und daher für viele Bürger ein unbeschriebenes Blatt. Dies entspricht aber nicht der Realität. Schulz war gerade bez. Europapolitik immer wieder im Fernsehen; und in Zeiten der immer weiter um sich greifenden EU-Skepsis scheint es doch wenig überzeugend, dass derselbe Mann, der im EU-Wahlkampf als Spitzenkandidat antrat* und immer wieder als wichtige Person im Zusammenhang mit den Griechenlandhilfen stand, nun ein großer Unbekannter sein soll.
Gerade aber dieses hohe Ansehen, dieses Renommee auf EU-Ebene und die Beziehungen zu anderen Staaten soll Schulz qualifizieren. Wer dergleichen erzählt, bindet dem Wähler einen Bären auf. Schulz war in seinen Tagen als Parlamentspräsident insbesondere bei den kleinen Parteien (sogar den Grünen!) äußerst unbeliebt, da er eine informelle Große Koalition aus Europäischer Volkspartei und den Sozialdemokraten leitete, die übrigen Vertreter überging oder maßregelte. Abgeordnete kritisierten ihn oftmals für seinen Führungsstil. Er verdarb es sich beim Brexit mit den Briten, indem er diesen drohte, zeigte sich in der Griechenlandkrise undiplomatisch und verdarb es sich mit den Italienern seit der legendären Streitszene mit Silvio Berlusconi. Gerade der „Kapo“-Vergleich resultiert aus der offenen Möchtegerntyrannei des Parlamentspräsidenten, die Berlusconi damit karikierte. Schulz ist demnach in der EU bekannt, aber nicht gerade beliebt.
Ganz abgesehen davon, dass der Vorsitzende des Europäischen Parlaments an nur drei Abstimmungen in zwei Jahren teilnahm.
In Deutschland lautet eine alte Weisheit, dass nicht Kandidaten gewinnen, sondern Kanzler verlieren. Merkel hat sich in eine Position der Abwählbarkeit manövriert. Aber Schulz kann – selten wie ein anderer Kanzlerkandidat der bundesrepublikanischen Geschichte! – gar kein Gegenprogramm liefern. Schröder und Brandt hatten bei der Ablösung der jeweiligen CDU-Kanzler einen „Spin“, sie hatten den Zeitgeist auf ihrer Seite, begleitet von Aufbruchsstimmung und einer neuen Vision für ein anderes Deutschland. Merkel und Schulz unterscheidet dagegen in den wichtigen Themen prinzipiell nichts. Der Bürger darf im September wählen, ob er mehr Gerechtigkeit oder mehr Gerechtigkeit, mehr Europa oder mehr Europa, oder vielleicht mehr Flüchtlinge oder doch mehr Flüchtlinge will. Außer „Merkel muss weg“ dürfte keinem Bürger der Mitte ein plausibler Grund einfallen, Schulz zu wählen.
Aber damit wären wir wieder im populistischen Teufelskreis.
_________________
*Im Übrigen mit dem schönen Spruch, dass man Schulz wählen solle, damit „ein Deutscher“ Kommissionspräsident der EU werden. Auf einmal sind Nationalismus und Populismus wieder „in“, wenn es die SPD tut …