Die utopische Häutung

10. September 2016
Kategorie: Carl Schmitt | FAZ-Kritik | Ironie | Linkverweis | Machiavelli | Medien | Non enim sciunt quid faciunt | Persönliches | Philosophisches

Die Migrationskrise wird zur Nagelprobe für den deutschen Geist. Herfried Münkler, Professor der Politikwissenschaften in Berlin, ist einer der Vertreter der geistigen Elite dieses Landes, welcher der Bewegung voran marschiert. Das ist in vielerlei Hinsicht obskur. Dass ein Mann, der eigentlich als Experte für außenpolitische und machtpolitische Fragen gilt, als erster Professor der Kanzlerin Geleit angeboten hat und anbietet, irritiert. Aber der Fall Münkler offenbart auch: die Hohlheit einer angeblichen Koryphäe ihres Fachs.

Münkler gilt in der deutschen Öffentlichkeit als strategischer Geist, mit allen Wassern der Realpolitik gewaschen. Das ist die erste Chimäre; die Bezeichnung ist so falsch wie der Ruf der Kanzlerin als Pragmatikerin. Zwar hat Münkler seinen Machiavelli gelesen, aber nicht verstanden; und von anderen Denkern der „Realisten“ unter der langen Ahnenreihe der politischen Denker – von Thukydides über den erwähnten Florentiner und Thomas Hobbes bis hin zu Carl Schmitt – scheint in Anbetracht der historischen Umwälzungen ebenso wenig übrig. Von den „praktischen“ Realisten wie Bismarck und Adenauer, deren Handeln oder eine lakonische Äußerung mehr wert ist, als ein ganzes Buch von Münkler, ganz zu schweigen.

Das harte Urteil sei an dieser Stelle erlaubt. Denn bereits Münklers Dissertation zu Machiavelli besteht zur Hälfte aus der Wiederaufbereitung politischer Ideengeschichte, statt aus den Thesen des Urvaters der modernen Politikwissenschaft. Die spezielle Kritik an Münkler bezüglich Machiavelli wurde bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert; doch die Steigerungen der letzten Monate, da Münkler in der FAZ, dem Deutschlandfunk und in Talkshows hausieren geht, offenbart eine Mischung aus Narzissmus, Anbiederung, akademischen Geschwurbels und Verachtung jedweden realpolitischen Gedankens, der einen vor die Wahl stellt, die Sprache zu verlieren – oder dieser Ausgeburt des neuhumanistischen Speichelleckertums alle theoretischen Wälzer jener Geistesgrößen um die Ohren zu hauen, die dieser Professor angeblich studiert haben soll.

Die Einleitung verrät bereits, dass hier letzteres geschieht.

Münkler hat ein neues Buch geschrieben – gemeinsam mit seiner Gattin Marina. Der Liebreiz einer Frau und die Tollheit eines Mannes mögen seit Trojas Fall immer wieder die Staaten Europas in Bedrängnis gebracht haben; ich schließe allerdings aus, dass man die Hauptschuld an diesem merkwürdigen Traktat Frau Münkler zuschieben sollte. Das hieße Herrn Münkler zu entlasten, der immerhin mit seinem Namen bürgt. Da wird fabuliert von den „Neuen Deutschen“, eine Wendung, bei der man glaubt, der sozialistische „Neue Mensch“ sei nicht mehr fern. Che und Mao als Paten eines angeblichen Machiavelli-Kenners?

Tief in Münkler schlummert das, was auch der federführende Journalist in der Einleitung andeutet: Münklers Geist ist ein Mechanismus, mehr von Theorien und Konzeptionen geprägt als den Gesetzen von Notwendigkeit, Staatsraison und Recht. Ihm ist Utopia näher als die Römische Republik; das Gewünschte lieber als das Tatsächliche: kurz, er ist der Anti-Machiavell, aber nicht in der Form des Aufklärers, sondern im Verhältnis von Jesus zum Antichristen. Münkler ist und bleibt ein deutscher Idealist, wie schon die anderen tragischen Figuren der deutschen Geisteswelt, die das Konstrukt einer Realität über die Realität selbst stellten. Luther und Marx stehen Münkler näher als der Mann, der nach San Casciano ging. Seine Anspielungen gelten ganz dezidiert Thomas Morus und seinem Utopia, Zeitgenossen und Gegen- wie Ergänzungswerk zu Machiavellis Wirken.

Münklers Meinung hat sich auch nicht seit seinem Beitrag im Stern geändert. So appelliert er, die Menschen müssten „assimiliert“ werden. Schön gesagt, das ist ja bereits bei den anderen Unzähligen gelungen, die in viel kleineren Schüben und über weit größere Zeiträume eingewandert sind, meistens aus dem nahöstlich-muslimischen Raum! Und jetzt plötzlich wird das klappen, wenn wir alle daran glauben. Und – ich vergaß – natürlich brauchen wir Einwanderung. Aber „wir“ wollen dafür nicht die Kosten aufnehmen. Es ist das einnehmende „Merkel-Wir“, das auf Kosten anderer dicke Schweinshaxen mit Sauerkraut futtert, und dann die anderen dazu drängt, dass man die Rechnung gemeinsam teilen müsse. Dass DAX-Unternehmen bisher nicht einmal 100 Migranten in Lohn und Brot brachten, die Erledigung des Facharbeitermangels also ein Mythos bleibt, das interessiert unseren Utopisten nicht – immer noch beharrt Münkler darauf, man bräuchte 700.000 Zuwanderer pro Jahr. Qualifikationen? Herkunft? Religion? Spielt alles keine Rolle auf unserer fantastischen Insel, wo sich die Einwanderer „assimilieren müssen“. Münkler wird zu Merkler.

Man mag einwenden: ja, Münkler irrt in der Migrationskrise, aber alles andere ist doch gut. Nein, ist es nicht! Ganz und gar nicht: denn ein Realist, der in der Realität scheitert, ist ein Ideologe. Es kommt zutage, was man hätte früher ahnen können: Münkler hat bis heute keinen einzigen originellen Gedanken geprägt, der das realpolitische Denken in seiner Gesamtheit irgendwie beeinflusst hätte. Man mag auf Dugin hinabblicken, weil er als Putins Stratege agiert; man mag Brzeziński beargwöhnen, weil er die totale Hegemonie der USA gutheißt. Doch bei beiden finden sich um Längen schärfere und klarere Einsichten als bei Münkler, dessen beste Gedanken widergekäute und teilweise umgestellte machiavellistische Tatsachen sind, die jeder, der mal etwas mehr als Principe und Discorsi gelesen hat, zur Genüge kennen dürfte.

Es ist dies die Nemesis eines realpolitischen Aufschneiders. Jetzt, da die Geschichte ruft: Hier ist Rhodos, hier spring! – springt Münkler als Schmalspurmachiavellist und landet als pseudomorusianischer Bettvorleger. Die Geschichte selbst stellte ihm die Herausforderung, sie setzte Umstände fest, nannte ein Szenario, dass es in dieser Art seit 500 Jahren nicht gegeben hatte; kurz, eine Situation, in der sich der Realist Münkler hätte bewähren können, in dem er mit machiavellistischer Klarheit, Hobbes’scher Radikalität und Schmitt’scher Notwendigkeit seine eigene „fortuna“ mit „virtù“ hätte schmieden können – jene beiden wechselnden Gewalten, die Machiavellis Welt einnehmen.

Nichts davon! Münkler reiht sich in die Reihe der Günstlinge ein, bejubelt seit dem ersten Tag die Politik der Kanzlerin, deren „Wir schaffen das“ er gutheißt, ja, als großen Wurf ansieht. Für ihn die richtige Antwort. Der Machiavellist reibt sich die Augen, fährt sich mit beiden Händen durchs Gesicht: Herfried hat Niccolòs Opportunismus gefressen, ohne Rücksicht auf politische Weisheit, und tanzt Hand in Hand mit jener Günstlingswirtschaft, die der Florentiner so verabscheute, da jener Leistung und die freie Republik über alles liebte. Münkler ist der Totengräber des Machiavellismus und zugleich dessen nekrophiler Liebhaber, weil er den anti-feudalen Gedanken Machiavellis pervertiert und wie kein zweiter lebt.

Noch hat Münkler Oberwasser – so lange, bis das ganze Lügengebilde bricht. Denn die Geschichte ist eine nachtragende Hure. Sie tritt nach, wenn man am Boden liegt. Jene, die viel scheinen und wenig sind, werden nach ihrem Betrug umso heftiger erniedrigt. Münkler hat sich in einem gefährlichen Spiel des Mitläufertums verfangen, in dem es nicht mehr um wissenschaftliche Intelligenz, sondern den nackten Kampf um Pfründe und Ansehen geht. In dem Moment, da noch der Applaus der Flüchtlingshelfer brandete, konnte er all jene, die sich dagegen sträubten als „dumm und faul“ titulieren. Nunmehr kommt leise Kritik auf: Merkel hätte ihr „wie“ formulieren sollen. Zurückrudern? Keineswegs! Der Weg war und ist der Richtige. Vielmehr beklagt Münkler, dass dies die „Stunde des Parlaments“ hätte sein müssen, aber man habe es wohl wegen parteiinterner Querelen unterlassen:

„Hier wäre eigentlich genuin die Stunde des Parlaments gewesen. Ich nehme mal an, man hat das nicht gemacht, weil dann die inneren Gegensätze in den Parteien – nicht nur innerhalb der CDU/CSU – sondern auch innerhalb der SPD zu deutlich hervorgetreten wären.“

Lesen wir richtig? Das Parlament, die Vertretung des deutschen Volkes, wird bei der wichtigsten Entscheidung der Nachkriegszeit übergangen, weil dann Merkels Politik nicht durchgekommen wäre? Die Gesetze dieses Landes werden vom Bundestag entschieden, nicht vom Kanzler, dem nach GG nur eine Richtlinienkompetenz zukommt – zu wenig, um solche Entscheidungen zu treffen, die den Zuzug von Hunderttausenden nach sich ziehen. Der ungeheure Verfassungsbruch, der hier geschehen ist, und bis heute kaum realisiert wurde – von Münkler hinweggefegt wie eine lästige Fliege. Wenn die Realität die Moral brechen könnte, wenn das Recht die Idee zertreten könnte – dann müssen Realität und Recht eben weichen! Die Kanzlerin schützt die Moral – bisher die einzige Parallele zu Carl Schmitt. Münkler macht sich zum Kronschwafler des Merkelreiches.

Wo ist der Gedanke der Staatsraison? „Mantenere lo stato“ heißt genau übersetzt – den Staat erhalten! Was ist mit diesem höchsten aller machiavellistischen Leitprinzipien? Was ist mit dem Leitsatz, dass Souverän ist, wer den Ausnahmezustand verhängt – was in letzter Hinsicht bedeutet, dass Merkel der Souverän ist? Noch ein Punkt sollte Münkler zu denken geben, so er wirklich mal Machiavelli gelesen hat: Roms Stärke ging von seinen Brückenköpfen, seinen Kolonien aus, die es in fremden Ländern errichtete, um seine Macht zu stärken, weil es damit den Zusammenhalt der örtlichen Bevölkerung schwächte. Und: Bundesgenossen, also verbündete Nachbarn, sind mehr wert als bloße Untertanen. Ich glaube nicht, dass „Old Nick“ ein Freund unkontrollierter Einwanderung wäre, im Gegenteil – vermutlich hätte er sie als staatsschwächendes Element gegeißelt.

Münkler ist ein Symptom. Er steht für all jene, die auf den Zug aufspringen, solange es noch geht. Und da die Luft dünner wird, schlagen sie umso stärker mit den Armen. Münklers neuester Wurf: der 11. September sei keine Zäsur gewesen.

Doch weder in Afghanistan noch im Irak, so Münkler, wären die Verhältnisse ohne die Anschläge gut; „auch unter dem Regime der Taliban und Saddam Husseins wären viele aus diesen Ländern geflohen, und wahrscheinlich wäre es auch dann zu dem als „arabischer Frühling“ bezeichneten Aufstand gegen die autoritären Regime des Nahen Ostens und der nordafrikanischen Küste gekommen.“ Und fügt hinzu: „Das Hauptproblem dieses Raumes, die Selbstblockade der arabisch-islamischen Welt, hätte es auch dann gegeben, und ebenso hätte es die verzweifelte Suche nach Auswegen aus dieser Selbstblockade gegeben, deren Produkt im weiteren Sinn auch Al Qaida war und immer noch ist.“

Stimmt, der Irak wäre einfach so in ein Blutmeer abgedriftet, der Iran hätte einfach so eine Achse über den Schatt-el-Arab bis in den Libanon aufgebaut, und der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten wäre einfach so neu entfacht worden, und natürlich wäre auch alles andere eskaliert, ganz alles ohne 9/11 und den dadurch begründeten Irak-Krieg. Denn: die Schlüsselworte Islam, Terror, oder „Menetekel“ fallen hier nicht. Dass im Nachhinein betrachtet der Fall der Zwillingstürme das Zeitalter des islamischen Terrorismus und den seitdem moralisch wie wirtschaftlich – es handelte sich schließlich um das Welthandelszentrum – in sich kollabierenden Westen hervorragend zusammenfasst, das geht einem Utopisten nicht in den Kopf. Obwohl der Anschlag nicht von Saddam Hussein geplant wurde, hat genau dies die damalige Medienpropaganda in den USA genauso suggeriert um die Invasion des Zweistromlandes vorzubereiten – mit allen Konsequenzen, die Peter Scholl-Latour bereits vor dem Ausbruch des Krieges so prognostizierte.

Das Traurigste zum Schluss: nein, Münkler ist nicht einmal Utopist. Denn Thomas Morus, auf den er sich stützen könnte, hat sein Buch als Satire geschrieben. Nichts von diesem „Nichtort“ des Humanisten ist so gewollt. Selbst hier bleibt Münkler wieder ein scheinbares Individuum, bleibt Pseudomorusianer. Schon den Zynismus Machiavellis erkannte er nicht, wie soll es da beim Ironiker More klappen? Auch diese utopische Häutung, dieses Abstreifen des realpolitischen, machiavellistischen Kokons, zeigt nur eine weitere Insektenhülle ohne geistiges Fleisch.

Darf man sich heute besorgter Bürger nennen, wenn man befürchtet, dass auch unter diesem Kokon keine Larve wartet – sondern nur das leere Nichts?

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