Vivaldi, wie Sie ihn noch nicht gehört haben

3. August 2016
Kategorie: Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Musik | Venedig

Sind Sie auch wie Igor Strawinsky der Meinung, Vivaldi hätte nur ein einziges Konzert geschrieben, dafür dieses vierhundertmal? Zugegeben, als ich jünger war, glaubte ich Ähnliches. Obwohl Vivaldi mein zweiter Hauspatron ist – Beethoven für meine bönnsche Heimat, Vivaldi für meine venezianische – tat ich mich lange schwer damit, ihm gerecht zu werden.

Das war nicht zuletzt auf die eher schlechten Einspielungen zurückzuführen. Irgendwie hörte sich alles dahingespielt an; und es kam in der Tat der Gedanke auf, dass auch dies wieder nur die neueste Kopie der Vier Jahreszeiten sei.

Am 28. Juli jährte sich Vivaldis 275. Todestag. Hat es jemand bemerkt? Richtig. Zeit daher, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, und in Vorbereitung auf das nächstwöchentliche, andere große Jubiläum venezianischer Geschichte auf Vivaldi „in extremo“ hinzuweisen.

Vivaldis „schlechter Ruf“ beruht vor allem auf der Wiedergabe seiner Konzerte, unter Auslassung seines reichhaltigen, geistlichen Werkes. Schließlich arbeitete der Venezianer als Musiklehrer eines Waisenhauses. Venedig, ganz Handelsrepublik, wusste noch, wie man auch aus den angeblich Unerwünschten Profit machte: die Waisenhäuser der Stadt waren Ausbildungszentren der Musikgesellschaft. Kinder, die eine schöne Stimme hatten, bildete man zum Gesang aus, die restlichen lernten ein Instrument. Damit besaß die Republik einen musikalischem Grundstock, auf den die Serenissima ihren Ruf als barocke Musikmetropole gründete.

Das bedeutet: das Ospedale della Pietà, in dem Vivaldi unterrichtete, war nichts anderes als ein Konservatorium unter kirchlicher Aufsicht. Vivaldi hatte vorher als Kaplan die angeschlossene Kirche Santa Maria della Pietà betreut. Der „rote Priester“, wie man ihn in der Lagunenstadt wegen seiner Haarfarbe nannte, beendete zwar seine Karriere aufgrund seiner kränklichen Verfassung; er blieb aber weiterhin dem Haus als Musiker verbunden. Die öffentlichen Aufführungen im Ospedale brachten nämlich reichhaltige Spenden, von denen sich der Betrieb finanzierte.

Es ist daher nicht verwunderliche, dass eigentlich die geistliche Musik Vivaldis stärkstes Feld ist. Das merkt man bei einigen Aufnahmen deutlich. Man beachte dieses Gloria in ungewöhnlicher Schnelle unter der Leitung Rinaldo Alessandrinis:

Der Venezianer schrieb darüber hinaus vier Oratorien, die zu seinem eigentlichen Hauptwerk gezählt haben dürften. Von diesen ist leider heute nur noch eines erhalten, nämlich Juditha triumphans; es wird an späterer Stelle noch seinen würdigeren Platz in diesem Diarium erhalten, doch hier eine langsamere Kostprobe:

Ein Chor aus demselben Oratorium, den man vom Hören her wohl auch nicht mit dem Maestro assoziierte:

Unter der bekannten Prämisse, dass der Löwe eher der Instrumentalmusik als dem Gesang zugeneigt ist, schmausen ihm diese Passagen ganz beträchtlich.

Den eigentlichen Wiederzugang zu Vivaldi verschaffte mir vor ca. 10 Jahren die Herangehensweise Andrea Marcons und des Violinisten Giuliano Carmagnola, den bis dahin durchgehend heiter-fröhlichen Vivaldi melancholisch und dunkel anzustreichen. Ein Vorgang, der im Vergleich zu älteren Aufnahmen revolutionär erschien:

Da liegt plötzlich eine Tiefe drin, die man so gut wie nicht kannte. Als ich mir damals, entweder 2004 oder 2005, diese CD zulegte, war ich bekehrt.

Wäre ja nicht das erste Mal, dass Strawinsky geirrt hätte…

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