In der jahrelangen Betrachtung ästhetischer Stoffe – in historischer wie literarischer Sicht – fiel mir nicht selten auf, dass Gesellschaften und Kulturen in ihrer Glanzzeit zumeist „klassische“ Themen der Menschheit bedienen. Die großen Fragen der Musik und Literatur sind dann vornehmlich: die Liebe im Sinne der Caritas; der Tod und dessen mögliche Überwindung; die Erlösung vom Bösen; der Kampf gegen das Schicksal; die Freiheit und ihre Grenzen; die ethische Frage danach, wie richtig zu handeln sei; die Suche nach Wahrheit, dem Guten und dem Schönen.
Übereinstimmend ist der Grad der Transzendenz der Themen. Nicht das Alltägliche, das Selbstverständliche begegnet uns bei Dante, Beethoven oder Raphael, sondern gerade das Außergewöhnliche, das Heilige, das Wunderbare. Nun mag man auch einwenden, dass die profane Liebe eine Rolle spiele. Gewiss. Doch sie findet immer als Konzept im Großen und Ganzen statt. Nicht die Liebesgeschichte ist es dann, welche das Hauptmotiv einnimmt, sondern deren Einbettung in das Große, Ganze, Göttliche. So bei Shakespeare wie bei Goethe. Die Liebe ist in diesem Sinne sakral, nicht profan.
Kulturelle Dekadenz spiegelt sich demnach bereits in der Kunst wieder, wenn derlei Themen in den Hintergrund treten. In der klassischen Epoche einer Gesellschaft spielen die selbstverständlichen Dinge eine untergeordnete Rolle. Das Körperliche und das Geistige halten sich die Waage. Die Sprache ist in ihren Worten exakt. Da Sprache und Worte exakt sind, haben sie auch eine tiefere Bedeutung. Diese Heiligkeit des Gesprochenen und Geschriebenen ergibt sich aus der Besprechung der Lebensthemen; der Glaube ist ein immanenter Bestandteil der romantischen Tradition, ob bei Eichendorff oder Manzoni. Zugleich wird aber Gott nur selten genannt, um ihm in höhere Sphären zu rücken; so ist sind die „Promessi sposi“ Manzonis durch und durch von der christlichen Moral gekennzeichnet, aber Gott selbst wird kaum bemüht.
Ähnlich ist die Wahrheit ein Bestandteil deutscher Klassik; das Wort wird aber eben deshalb nur sehr selten, und dann umso wirkmächtiger genutzt – berühmt ist die Passage in Goethes „Iphigenie auf Tauris“, bei der das Versschema in der Mitte des Buches zusammenbricht, zugunsten des Aufrufs: „(Zwischen uns) Sei Wahrheit!“ Das Höhere, das Schöne, Gute und Wahre darf nicht durch seine dauernde Wiederholung profaniert werden.
Dass demnach bspw. Sexualität eine geringere Rolle in solchen Epochen spielt, hat wenig mit dem Tabu oder Prüderie zu tun, sondern weil andere Themen als wichtiger erscheinen. Boccaccio, dem Schreiber des Dekameron, ist dies durchaus bewusst bei der Abfassung seiner Novellensammlung: sie soll ja gerade das Alltägliche zeigen, im Gegensatz zum Göttlichen in Dante Alighieris Comedia. Gerade aber durch den Kontrast und die Anspielungen auf Dante, die allesamt Hommagen und ehrfürchtige Verneigungen sind, wird jedoch deutlich, dass es auch Boccaccio nicht um „Sex&Crime“ geht, wie das einige heute gerne interpretieren, sondern um das menschliche Spiegelbild mit allen seinen Fehlern, auch als Antwort auf die drei jenseitigen Sphären (Hölle, Purgatorium, Paradies).
Dadurch, dass Erhabenheit, Wahrheit und Klarheit so eine große Rolle spielen, gelten demnach bestimmte Worte als speziell und haben ihrer Erwähnung wegen einen so großen Wert und eine so große Bedeutung, dass sie nicht einfach für jedwede Situation verwendet werden. Der Wortschatz schöpft nicht nur aus Synonymen. Unmut, Bitterkeit, Ärger, Wut, Zorn und Hass sind verschiedene Stadien und nicht gleichbedeutend. Ebenso ist nicht alles sofort „Liebe“, sondern Zuneigung, Zärtlichkeit, Verbundenheit, Begierde, Leidenschaft.
Worte nutzen durch ihre wiederholte Verwendung ab. Der Satz „Ich liebe dich“, der in vergangenen Jahrhunderten eine eklatante, intime Bedeutung hatte – insbesondere in Zeiten, in denen sich Ehepaare noch untereinander zu Ihrzen pflegten – ist heute zu einer völlig abgedroschenen Phrase geworden, weil man sie hunderte Male am Telefon wiederholt, oder gar gegenüber einem Dutzend wechselnder Lebenspartner.
Ebenso ist mittlerweile jede Gemütsregung, die einem nicht passt, als „Hass“ abgetan.
Die Medien haben daran immensen Anteil. Ob Werbung oder Zeitung: in ihrer Sensationslust haben die Massenerzeugnisse von Internet, Radio, Zeitung und Fernsehen in ihrem Kult um Prägnanz und Deutungshoheit ganze Worte entwertet. Man liebt nicht nur einen Menschen, sondern auch den Hamburger einer Fast-Food-Gruppe. Plötzlich kann man alles lieben, wo früher der Interpretationsrahmen von Liebe sehr eng war. Es hat dafür gesorgt, dass insbesondere in der Medienwelt „Liebe“ zu einem Synonym für Sex wurde. Dass noch vor einem Jahrhundert auch enge Freunde oder Brüder zueinander sagten „Ich liebe dich“, wird heute in der Literaturexegese schon schamlos oft als Zeichen möglicher homosexueller Gefühle interpretiert. Der Zeitgeist erklärt sich mit seinen hohlen Phrasen nunmehr die Welt, wie sie ihm gefällt, da er alles relativiert hat.
Ebenso einfach nutzt man keine Abstufungen mehr, sondern geht gleich in die Vollen. Auf Facebook sind Meinungsverschiedenheiten und Streitereien sogleich Hass. Wenn Menschen etwas einzuwenden haben, gelten sie als wütend. Letzteres ist schon deswegen Unsinn, da Wut eine irrationale Gefühlsregung darstellt; richtigerweise müsste vom Zorn die Rede sein, denn Zorn setzt einen Grund voraus. Gott wütet nicht, er zürnt. Schon das Verb „wüten“ erinnert uns nämlich an „wütende“ Horden, also an mutwillige Zerstörung.
Das Spiel mit „Wut“ und „Hass“, also das Jonglieren mit den Superlativen menschlicher Regung, ist beabsichtigt, da man eine rhetorische Höchstformel in der Diskussion nicht mehr überbieten kann. Dabei sind es viel zu große Wörter für viel zu kleine Dinge. Hass, das war früher ein Zustand der Todfeindschaft zwischen rivalisierenden Familien oder die Abscheu gegen einen persönlichen Fehdegegner, den man im Duell stellte. Nicht umsonst gilt Hass im Johannesevangelium als so schlimm wie der Mord – was richtigerweise insinuiert, dass das eine zum anderen führen kann.
Kurz: wer einstmals von „Hass“ zwischen zwei Personen sprach, ging auch von möglichen Mordabsichten aus.
Heute dagegen verwendet man bereits „Hass“ als Anklagepunkt, wenn Journalisten die Leserkommentare zu ihren Artikeln nicht gefallen.
Es ist dabei nicht nur Anhaltspunkt eines Verlusts der Differenzierung und Einordnung, sondern auch ein Niedergang der Sprache und der Kultur als solcher. Die unterstellte Tumbheit der „Anderen“ ist nur das Spiegelbild des eigenen, zusammengeschrumpften Horizonts. Eine Kulturelite, die Anwürfe – und mögen sie noch so despektierlich sein – nur mit den immergleichen Phrasen von Hass und Wut kontern kann, kurz: darauf abzielt, dass der Mob oder das Pack irrational handle, der zeigt nicht nur seine mangelnde Einsicht, dass sein Gegenüber Motive besitzen könnte (und damit auch den Mangel an Empathie, den er selbst jederzeit anderen abverlangt); nein, wer auch nicht auf Schüsse unter die Gürtellinie intelligent zu antworten, oder wenigstens stoisch zu schweigen weiß, der entpuppt sich als jemand, der sprachlich abgedankt hat. Gerade Schreiber jedweder Art sind schließlich dazu ausgebildet, Worte richtig zu setzen, sonst dürften sie sich nicht Autoren, Schriftsteller, Journalisten, Lektoren oder Herausgeber nennen.
Stattdessen leisten gerade solche Gesellen, die die Sprache noch primitiver gestalten, dieselben Phrasen abspulen und so eine jedweder Stilform entbehrende Sprache aus superlativistischen Versatzstücken zusammenzimmern, der Primitivierung, Profanierung und letztlich: Degenerierung der Diskussion- und Sprachkultur Vorschub. Der Schreiber gerät nicht in den Strudel, er rührt ihn erst kräftig an.
Bis zu jenem Tag, da Hass und Liebe überall sind, und man sie nicht mehr zu unterscheiden weiß.