»Falier.«
Domenico Orseolo rollte das R des zuletzt gesprochenen Namens, als legte er seine gesamte Skepsis in diesen einen Zungenschlag. Der Orseolo war Senator und aus ebenso altem venezianischem Geschlecht wie der Mann ihm gegenüber.
Stille beherrschte danach den Raum. Es blieben nur die aufgefächerten Staubpartikel über einer Nussbaumholzplatte, die im Sonnenlicht spielten. Letzteres strömte aus einem bleiverglasten Fenster mit gotischer Form.
Daneben saß Domenico. Die Hände ruhten auf der Schreibtischplatte zwischen ihm und dem Gast. Seine blaue Augen hatten sich verengt. Wie die Augen eines Luchses, der ein unbekanntes Wesen in der Finsternis beobachtete, einschätzen musste, ob es sich um Beute – oder ein Raubtier handelte.
»Eine großzügige Geste, mir einige Minuten Eurer kostbaren Zeit zu gönnen, Senatore Orseolo«, meinte der Falier. Er lächelte dabei, faltete die Hände, als wollte er dem misstrauischen Orseolo gegenüber andeuten, dass dieser nichts zu befürchten hätte.
In der Miene des Senators zuckte kein Muskel. Aristoteles hatte in der Antike den Menschen als politisches Tier definiert. Domenico Orseolo war demnach eine machiavellistische Bestie. Er hatte sich den Weg an die Spitze des venezianischen Staatswesens gebissen und Gegner zerfleischt. Mit seinen Fünfundfünzig Jahren galt er als Jungspund in einer Gerontokratie. In Venedig erhielt man die wirklich wichtigen Ämter erst, wenn in anderen Ländern vergleichbare Amtsinhaber bereits tot waren. Er hatte die höchste Etage der Karriereleiter erklommen, und legte Wert darauf, jeden von der Sprosse unter ihm herunterzustoßen, der ansatzweise eine Bedrohung darstellte.
Wer eine rote Robe und einen Vollbart in der Tradition der alten Nobili trug, und in jede Bewegung und jedes Wort den Ernst der ewigen Republik von San Marco einbrachte, musste sich demgemäß verhalten.
»Eine gelungene Aussicht.«
Der Falier schaute wie abgelenkt durch die gotischen Fensterbögen. Sein Blick streifte über das Panorama rotverschachtelter Ziegeldächer. Wildes, rotes Moos, aus denen die Schornsteine der venezianischen Palazzi wie Pilze in den Himmel stachen. In der Ferne nahm die Fassade des Dogenpalastes die Sicht ein.
Der Orseolo wiegelte dunkel ab.
»Eine Spielerei.«
»Ein Programm«, begann der Falier freundlich, wurde zugleich deutlicher. »Ich bräuchte da einige Informationen.«
Die senatorischen Nasenflügel vibrierten. Nicht, dass Domenico etwas anderes erwartet hätte – Informationen wollte alle. Weitaus mehr beunruhigte ihn, dass der Falier sofort zu durchschauen schien, welche Wünsche er hegte. Ein Mann war verletzlich, wenn der Gegner dessen Ambitionen kannte.
Andere hätten den Fensterblick als ästhetische Komposition abgetan. Der Gast dagegen begriff schnell. Ob nun aus Instinkt oder Intelligenz.
Der Senator fixierte den Falier. Physisch keine Bedrohung. Hoch gewachsen, doch schlank und ohne athletische Vorzüge. Eine sanfte Miene. Braunes Haar reichte ihm über die Schläfen bis auf Kinnhöhe herab. In den Augen lag eine Ruhe und Besonnenheit, die Domenico von einem uralten Abt erwartet hätte – aber nicht von einem Mann um die Vierzig, der sich ungewöhnlich jung gehalten hatte.
Der Orseolo erhob sich. Er ging in die Offensive.
»Informationen«, knüpfte er an das letzte Wort des Gastes an. »Nun, ich bin sicher, ich kann Euch behilflich sein. Wenn ich weiß, mit was ich Euch dienen kann.«
Domenico verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Wie desinteressiert schaute er aus dem Fenster, zu den rosaroten Fliesen des Dogenpalastes, die im Mittagssonnenlicht blitzten.
»Natürlich wird Euch nicht jeder Informationsstand interessieren; wie der Umstand, dass Ihr in der Tat Gianluca Falier seid, der Sohn des Matteo Falier. Geboren am 25. April 1467. Vicenza«, führte Domenico nebenbei aus. »Und ebenso wenig wird es eine Neuigkeit für Euch sein, dass ich bereits bei Eurer Ankunft auf dem Lido davon erfuhr, dass Ihr Euch nach meiner Anwesenheit erkundigt hättet.«
Der Senator machte eine halbe Drehung, schaute über die Schulter zu Luca Falier, der sich nicht rührte.
»Mitglied des Dominikanerordens seit 1486. Priesterweihe in Ferrara. Angeblich ward Ihr im selben Seminar wie Girolamo Savonarola.«
»Dem ist so«, bestätigte der Falier, hob dann die Mundwinkel an: »Allerdings möchte ich hinzufügen, dass öffentliche Verbrennungen und die Errichtung von Theokratien nicht meinem Wesen entsprechen.«
Domenico hob die rechte Augenbraue. Länger, als er es beabsichtigt hatte. Luca Falier war ein bemerkenswerter Mann. Bemerkenswert, weil jener trotz allem ruhig blieb. Die übliche venezianische Schickeria konnte man erschrecken. Man machte Andeutungen, was man wusste. Kramte Schmutzwäsche aus dem Privatleben hervor, um zu erpressen, was man wollte. In der Vergangenheit hatte es dem Orseolo gereicht, potentiellen Rivalen vorzuführen, indem er solche Details nannte. Ein politisches Tier roch den Angstschweiß seines Gegners.
Aber Luca war die Besonnenheit selbst. Seine Anspielung hatte er ironisch gebrochen und souverän gekontert. Andere wären beim Namen Savonarola gestolpert. Den Falier dagegen juckte es nicht. Wäre jener kein Geistlicher, sondern Staatsmann geworden – er hätte eine ernste Bedrohung für Domenico darstellen können.
Der Parkettboden knackte. Der Senator schritt auf den Priester zu. Er sah ihm nicht in die Augen.
»Ihr tragt kein Ordensgewand.«
»Üblicherweise ziehe ich die Soutane vor.«
Der Orseolo griff nach einer Mantelecke des venezianischen Stoffes, den der Falier trug. Er umfasste ihn mit Mittel- und Zeigefinger, führte ihn dem Priester wie einen Beweis für seine Ausreden vor.
»Eigenwilliges Ornat«, resümierte der Senator.
Die Kleidung erinnerte weder an das Habit der Dominikaner, noch an sonst ein geistliches Gewand. Domenico hatte zuerst an ein schmuckloses Grau gedacht. Aber ein Schimmern irritierte ihn: silberne Fäden stachen aus dem falierschen Umhang, der bis zu den Stiefelansätzen herabhing.
»Ist das jetzt Mode in Rom?«
Luca grinste verstohlen.
»Ich bin im Urlaub.«
»Daher wohl die beiden Waffen, die Ihr an Eurem Gurt tragt.«
Der Priester im Silbergewand beließ es bei einer Unschuldsmiene. Seine Ärmel glitten über die Griffe an seiner Rechten und Linken, verbargen sie anschließend unter dem Umhang.
»Meine Interpretation der Zwei-Schwerter-Lehre, Senatore.«
Domenicos Ton gewann an Schärfe.
»Was für ein Pfaffe seid Ihr eigentlich?«
»Einer, der nach Wahrheit sucht.«
Es war der verdächtigste Satz in dieser Konversation. Das Wort ließ Domenico einhalten. Wahrheit war für ihn als Politiker eine verhandelbare Masse. Wahrheit war das, was man daraus machte. Nicht anders verhielt sich der Klerus seiner Zeit, der es weniger auf Wahrheit, als vielmehr auf Pfründe, ein Bischofsamt und wenigstens zwei Kurtisanen abgesehen hatte. Umso mehr, wenn er aus einem vornehmen Haus stammte.
Desto misstrauischer musste er sein, wenn vor ihm ein Mann aus bester venezianischer Familie stand, der stattdessen einem Bettelorden beigetreten war und von Wahrheit schwatzte. In der Kirche wie in der Politik galt dieser Personenschlag als der gefährlichste.
Doch mit dem Begriff der Wahrheit schwang ein weiterer Unterton mit, einer, der dem Orseolo noch weit weniger gefiel. Er brachte eine Erinnerung zutage. Eine an Schwertklingen. Mäntel mit goldenen Ornamenten.
Und an eine venezianische Institution, die selbst der Politik Venedigs als unantastbar galt, weil sie die Republik immer wieder zusammengehalten und verteidigt hatte.
»Ich darf Euch versichern, Messer Orseolo«, brach Luca das Schweigen, »dass ich keinerlei Absichten politischer Art hege. Auch, wenn mich Seine Exzellenz schickt.«
Domenico verstand.
»Loredan.«
»Ihr habt dem Dogen einen Dienst versprochen. Und ich bin hier, um diesen einzufordern.«
Die Erinnerung, die der Senator verdrängt hatte, pirschte sich heran und nahm Kontur an. Er hatte den Falier gesehen. Vor einem halben Jahrzehnt. Womöglich mehr. In einem Zusammenhang.
Luca Falier war ein Löwe. Und wenn ein Löwe auftauchte, bedeutete das Ärger.
»Wein?«
Weswegen Domenico zügig nach einer purpurroten Karaffe auf dem Tisch griff, um seinen Strategiewechsel einzuläuten.
»Ich habe erst heute Morgen eine Messe abgehalten.«
»Langweilig seid Ihr also auch noch.«
Domenico drückte dem Gast ungefragt einen Goldkelch mit Emaillenverzierung entgegen – und schenkte trotzdem ein.
»Zu freundlich.«
»Ihr seid wie ein blöder Hund«, resümierte Domenico. »Man tritt Euch, und Ihr leckt mir trotzdem noch die Hand.«
»Meine Missionen haben mich gelehrt, dass eine kleine Geste einen Krieg verhindern kann.«
»Ein Venezianer sollte den Krieg nicht fürchten. Man kann dabei wunderbare Waffengeschäfte machen.«
Domenico schwenkte den Wein im eigenen Pokal, fixierte den roten Saft darin.
»Ein Venezianer sollte den Krieg vermeiden, wenn der Gegner Domenico Orseolo heißt.«
Domenicos Weinkelch verharrte in der letzten Bewegung. So, als hätte nicht seine Hand, sondern Lucas Worte ihn gestoppt.
»Ihr wisst sehr genau, weshalb ich hier bin. Ich suche nach dem Jungen.«
Domenico ahnte, worauf diese Diskussion hinauslief. Der Löwe hatte Pläne. Pläne, die denen des Orseolo zuwiderliefen. Er hatte darauf spekuliert, dass er die Sache aussitzen konnte. Dass dieser Tag nicht eintreffen würde – oder man das Schicksal dieses Kindes vergaß. Ein Versprechen wie das, welches er dem Dogen Loredan gegeben hatte, war nur dazu da gewesen, um Zeit zu schinden. Seiner Ansicht war nicht er der Schuldige.
Sondern der Falier, der Zeit verschwendet hatte.
»Dafür kommt Ihr reichlich zu spät, Löwe.«
»Seine Exzellenz hat Euch damit betraut, dieses Kind im Auge zu behalten.«
»Und wäre nicht mein verlauster Sohn Eurem närrischen Abenteuerclub aus Taugenichtsen, eingebildeten Rittern und Universitätsversagern beigetreten, hätte ich mich dazu kaum breitschlagen lassen.«
Luca senkte die Augenlider.
»Ihr habt die langweiligen Pfaffen vergessen, Messer Orseolo.«
Der Senator nahm einen demonstrativ großen Schluck aus seinem Kelch.
»Löwen. Verschwinden und kommen, wann es ihnen passt. Und wenn sie dann mal auftauchen, erheben sie Forderungen.«
»Bedenkt, dass wir unser Leben für Venedig…«
»Wo waren die Löwen, als die Franzosen Brescia überfielen?«, fuhr Domenico dazwischen. »Wo waren die Löwen, als die Deutschen Verona eroberten? Wo waren sie, als die Söldnerheere unsere Höfe und Dörfer in Brand steckten, unsere Villen plünderten, und die Ackerfrüchte unserer Bauern stahlen? Wo waren die legendären Löwen des San Marco, als Vicenza kapitulierte – und wo sind sie jetzt, da das Heer des Kaisers nur wenige Meilen von hier kampiert und Padua belagert?«
Metall knallte auf Holz. Der Orseolo hatte den Kelch abgestellt, stellte sich dem Falier gegenüber, stand ihm Auge in Auge, hielt ihm anklagend den Zeigefinger entgegen.
»Ihr redet von Wahrheit, Tugenden, so vielen schönen Worten. Da draußen führt halb Europa Krieg gegen unsere Republik, mit dem Ziel, uns so zu vernichten, wie sie es mit Mailand und Neapel getan haben. Der Papst hat das Interdikt über uns verhängt – und wüsste ich nicht, wer Ihr seid, es gäbe genug Leute, die in Euch einen römischen Spion sehen könnten.«
Luca blieb stumm. Ein kluger Mann wusste, wann es besser war, nichts zu sagen. Er hätte sich erklären können. Begründungen gefunden, warum Venedig in diesen Schreckensjahren der Katastrophe entgegen glitt. Nichts davon hätte den Orseolo versöhnen können, denn auf den Plätzen und in den Gassen machten bereits Gerüchte die Runde, man hätte die ersten Reiter und Landsknechte an den Rändern der Lagune ausgemacht.
»Eure Löwenangelegenheiten sind nur Bagatellen«, urteilte Domenico, »verglichen mit dem, was hier auf dem Spiel steht.«
Der Orseolo glaubte, der Diskussion damit ein Ende gesetzt zu haben. Doch der Falier, der bis dahin die Besonnenheit gewahrt, jede Anklage, jede Provokation ausgehalten hatte, als wären Worte für ihn nicht mehr als ein Windhauch, kapitulierte nicht.
In seinen Augen wandelte sich die bis dahin sanfte Bräune in den Blick eines Tigers.
»Für mich«, betonte Luca, »ist diese Bagatelle wichtiger als jede Stadt der Terraferma.«
Seine Hand glitt zur Kommode, auf dem ein silbergrauer Hut norditalienischer Art ruhte. Aus reiner Höflichkeit machte er eine Verneigung, bevor er ihn aufsetzte, andeutete, dass er verstanden hatte. Hier gab es nichts zu gewinnen. Man wollte und würde ihm nicht weiterhelfen. Der Orseolo handelte aus eigenem Interesse. Die Diplomatie hatte nicht versagt – sie war kaum zum Einsatz gekommen.
»Senatore.«
Luca verabschiedete sich lakonisch, aber freundlich und standesgemäß, setzte die Kopfbedeckung auf – und verließ den Raum.
Domenico dagegen blieb wortlos. Er schaute auf die Türe, die sich hinter dem Falier geschlossen hatte, ließ den Wein im Kelch kreisen.
Der Löwe hatte das Zimmer des Senators als Gast betreten – und es als dessen Rivale verlassen.
