Gloria patrono nostro,
‚vangelistae Sancto Marco.
Filii leonis sumus,
veritatem quaeribimus.
In nominem tuum imus
cum virtute venetorum.
(Codex Leonorum, Kapitel der Liturgie, I)
Wieder jährt sich San Marco. Kann ich dem eigentlich noch gerecht werden, einem meiner innigsten Themen einen Eintrag zu widmen? Schwierig. Weil San Marco in so vielen Bedeutungen und Schattierungen Form für mich angenommen hat, dass es ein endloses Kapitel wird. Wie ein Buch.
Ein Buch, in den Händen des Evangelisten.
Ich werde mich heute nur meinem Namens– und Schutzpatron widmen; anders als sonst, wo ich doch fast ausnahmslos immer alles zum Thema mache, was mit ihm zusammenhängt, statt ihn selbst. Es ist eine seltsame Bewandtnis, dass ich mein Diarium „Löwenblog“ genannt habe, aber ich mittlerweile so viele Leser habe, die gar nichts von den Löwen wissen. Auch hier bleibt das Evangelistentier der Anker. Der Löwe von San Marco thront über den Einträgen.
In Venedig existiert nicht nur ein Tag, an dem man dem Heiligen gedenkt. Der 31. Januar erinnert an die Überführung der Gebeine von Alexandria nach Venedig; daher der Eintrag zu eben dieser. Am 25. Juni gedachte man der „Apparitio Sancti Marci“, der „Erscheinung“ der Reliquien des Heiligen Markus – neben einem Bischofsring gehört dazu auch das (angebliche) Originalevangelium, das man an diesem Tag fand. Am 8. Oktober feierte man in Venedig die „Deditio ecclesiae Sancti Marci“. Die Gläubigen gedachten der Niederlegung der Gebeine unter den Altar – wo sie noch heute liegen.
Der Höhepunkt ist und bleibt aber der 25. April, der Tag des Martyriums. Wer heute die Basilika von San Marco aufsucht, wird augenblicklich eine Änderung ins Auge fallen: die Pala d’oro, eine der größten Kostbarkeiten der Kirche, wird an diesem Tag geöffnet. Sie thront über dem Altar und dem Grab, statt wie sonst von der Welt abgeschieden zu sein.
Daher werde ich die anderen Tage nutzen, um vielleicht etwas näher auf andere Aspekte des Markusgedenkens einzugehen: Markuslöwe, Markusflagge, Markuskirche. Es gäbe genügend, was mir einfiele.
Was wissen wir über Markus, den ich persönlich selbst im Deutschen ganz automatisch „San Marco“ nenne, so, als sei es ein Eigenname? Vermutlich mehr, als über manch andere Person aus dem Neuen Testament, aber weniger, als über eine Vielzahl anderer. Sein Rang brachte es mit sich, dass man Legende an Legende knüpfte. Das führte nicht zuletzt dazu, dass ich ein recht eigensinniges Bild von ihm entwarf; dazu aber später mehr.
Zuerst einmal ein kleiner Schock: Markus hieß wohl eigentlich Johannes. Markus (bzw. Markos) war jedoch der Rufname. Nicht verwunderlich, bedenkt man die Verbreitung des Namens Johannes und die mögliche Verwechslungsgefahr. Seine Mutter war Maria, bei der sich die Apostel in Jerusalem versammelten. Traditionell gilt er daher als Judenchrist.
Allerdings ist bereits der Name – Johannes Markos – so ein kleines Rätsel für sich. Denn Markos ist kein typisch jüdischer Name, sondern eine gräzisierte Form des lateinischen Marcus. Nun war es nicht ganz unüblich, dass einige Juden in der damaligen Zeit auch griechisch-lateinische Namen annahmen. Es existieren aber auch noch ein paar andere Indizien, die hellhörig machen. Dass Markus nämlich als Dolmetscher für die Apostel arbeitete, lässt die Vermutung zu, dass es in seiner Familie durchaus hellenistische Einflüsse gab; Paulus konnte die Verkehrssprache Griechisch, aber eben nicht jeder Fischer vom See Genezareth, aus denen Jesus seine Jünger rekrutiert hatte. Der Umstand, dass die Apostel sich ausgerechnet in seinem Haus versammeln, lässt wohl eher auf eine geräumige Behausung schließen. Als Petrus dort eintritt, öffnet ihm eine Magd die Türe. Dass lässt überdies den Rückschluss zu, dass Petrus die Familie des Markus kannte, und macht es auch nicht weniger wahrscheinlich, dass der im Petrusbrief genannte Markus, den Petrus als „Sohn“ bezeichnet, ein und derselbe ist.
Ich bleibe jedenfalls bei der traditionellen Deutung, dass der in der Apostelgeschichte erwähnte Johannes Markos San Marco ist, und sehe gerade durch den Petrusbezug diese These untermauert. Denn so, wie es scheint, kam Markus mit dem petrinischen Konterpart Paulus nicht immer ganz zurecht. Bekannt ist die Erzählung in der Apostelgeschichte, in welcher Markus zusammen mit seinem Cousin Barnabas und Paulus nach Antiochia ziehen will. Markus macht aber auf halber Strecke kehrt. Wieso, das erfahren wir nicht; das Heiligenlexikon schreibt so schön, dass Markus „wohl der Mut“ verlassen hätte.
Meine eigene Interpretation hatte ich dazu schon woanders preisgegeben. Keine Sorge, ich wiederhole sie am Ende des Beitrages nochmals.
Fakt bleibt, dass das Verhältnis zwischen Paulus und Markus danach angeknackst ist. So will Barnabas eine weitere Mission unternehmen, zusammen mit Paulus – und hofft, seinen Cousin doch noch einmal mitnehmen zu können. Paulus wehrt sich dagegen. Es kommt zum Krach – die beiden trennen sich. Paulus reist mit Silas, Barnabas mit Markus. Die Vettern beginnen mit der Missionsarbeit auf Zypern. Ehrlich gesagt: für mich sieht das weniger nach Mutlosigkeit aus, als einem Streit zwischen Markus und Paulus, sonst hätte letzterer Barnabas nicht auch noch stehen lassen.
Markus ist daher eher in der Begleitung des Petrus zu finden. Er hilft ihm auf seinen Reisen als Dolmetscher, soll dabei bis nach Rom oder Aquileia gelangen. Für die Venezianer ist letzteres wichtig, da eine Prophezeiung besagt, dass Markus seine letzte Ruhestätte in der Lagune finden soll. Weiteren Berichten zufolge – so der patristischen Tradition oder der Legenda Aurea – entstehen im Umfeld der Petrusreisen die ersten Fragmente eines Schriftzeugnisses der Wundertaten Jesu. Markus nennt das Werk Evangelium. Frohe Botschaft. Er ist damit nicht nur der erste Berichterstatter dessen, was heute als Quelle zum Leben Christi zählt, sondern auch der Begründer eines ganzen Genres. Und kaum schreibt jemand ein innovatives Werk, sind die Plagiatoren nicht weit. Matthäus und Lukas bedienen sich jedenfalls reichhaltig an der Pionierarbeit des Markus. Später springen noch einige ganz sensationslüsterne Typen auf den Zug auf, werden aber spätestens beim Konzil von Nicäa als Apokryphe aussortiert.
Der Verfasser des ersten Evangeliums macht aber noch nach diesem Coup Karriere. In Alexandria geht er als erster Bischof in die Geschichte ein. Er begründet damit nicht nur die ägyptische Christenheit, sondern auch die Koptische Kirche. Der Bischof von Alexandria ist einer der Patriarchen der Christenheit – neben jenen von Jerusalem, Antiochia, Konstantinopel und Rom. Er trägt den Ehrentitel „papa“ bis heute. Von vielen unbeachtet: auch die Koptische Kirche hat einen Papst, der sich in direkter Linie als Nachfolger des Heiligen Markus zurückführt. Bereits neun Bischöfe seines Namens gab es bisher dort. Auch hier setzt Markus Maßstäbe. Zufall, dass der Bischofssitz Alexandria auch als Ausgangspunkt der Entwicklung des Codex gilt? An der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert finden sich ausgerechnet in Ägypten die Vorläufer der ersten „Bücher“, die ab der Spätantike die Papyrusrolle ablösen sollen. Ein ironischer Wink des Evangelisten.
Wie viele andere Heilige erleidet Markus das Martyrium. An einem 25. April stürzen sich die Heiden bei der sonntäglichen Messe auf ihn, binden einen Strick um seinen Hals, schleifen ihn durch die halbe Stadt, strangulieren ihn zu Tode. Der Erfolg des Evangelisten wirkte bedrohlich, immer mehr Menschen fanden durch sein Wirken zu Christus. Um eine mögliche Verehrung der Gebeine zu verhindern, will man seinen Leichnam verbrennen. Ein aufziehendes Gewitter durchkreuzt den Plan – das Feuer erlischt, die Christen können ihn retten, und verbergen die Überreste des Heiligen Markus in dessen Bischofskirche. Dort lagern sie, bis sie im Frühmittelalter von venezianischen Händlern geborgen werden.
Den Rest kennen wir ja. Und wenn nicht – es bleiben ja noch zwei andere Tage im Jahr, um darauf näher einzugehen. Ab dann wurde aus Markus San Marco.
Das Merkwürdige an all dem: obwohl ich mich erst später mit all dem Sammelsurium an Mythen und Schriften zu diesem einflussreichen Heiligen beschäftigte, desto mehr… nun, identifizieren wäre wohl zu viel gesagt. Aber eine gewisse, merkwürdige Bindung gibt es da. Ich heiße nicht nur Marco, ich bin auch an einem 25. April getauft worden. Die Affinität zu Venedig begleitet mich ein Leben lang. Ich bin bilingual aufgewachsen; San Marco ist ein griechischsprachiger Jude, und ich werde den Gedanken niemals so ganz los, dass es seine Gründe hat, dass die Mutter, aber nicht der Vater genannt wird. Und wer denkt, dass alle Christen der Apostelgeschichte in kommunenartigen Versammlungen gelebt hätten – so mutet es doch recht seltsam an, dass zumindest die Familie des San Marco wohl wohlhabend genug war, um sich eine Magd und ein großes Haus zu leisten, wo die Jünger unterkommen konnten. Für mich spricht einiges dafür – Hellenisierung, Reisen, Sprachkenntnisse – dass San Marco womöglich aus einer Händler- oder vielleicht Kaufmannsfamilie kam. Auch das wäre für das venezianische Element (und meine persönliche Herkunft) mal wieder allzu typisch.
Die vielen Bewandtnisse machen San Marco für eine ganze Reihe von Patronaten zuständig. Der Sturm, der seine Verbrennung verhinderte, macht ihn zum Helfer gegen schlechtes Wetter. Da die Venezianer ihn unter Schweinefleisch versteckten, als sie ihn nach Hause brachten, gilt er als Schutzpatron der Schweinehirten. Weil die Venezianer sein verschollenes Grab in der Basilika bei Bauarbeiten wiederfanden, ist er ebenso Patron der Maurer und Bauarbeiter; als Herr von Murano schützt er alle Handwerker, die mit Glas umgehen. Als Schreiber schützt er auch die Notare.
Und nicht zuletzt ist San Marco Schriftsteller. An alle Autoren da draußen: das ist auch euer Schutzpatron. Das Schreiben begleitet gleichfalls mein Leben. Ohne könnte ich gar nicht. Auch, wenn das Literarische gerade etwas leidet. Gerade deswegen werde ich dem ab morgen auch mehr Platz auf diesem Diarium einräumen; als kleiner Tribut, als kleine Erinnerung, als kleine Ehre. Bei den Löwen verneige ich mich vor vielen Dingen, die mir im Leben wiederfahren sind. Und ich glaube, mein Namenspatron sieht es nicht allzu eng, wenn ich ihn so interpretiere, wie ich ihn sehe.
Ehrlich: wer sich mit Paulus fetzt und von einem Straßenmob ergriffen und hingerichtet wird, der muss wohl auch etwas provoziert haben. Das sieht man auch im Markusevangelium. Da schreibt keiner blumig wie Lukas oder von Feindesliebe wie bei Matthäus. Markus interessieren Dämonen, Wunder, Heilungen, die Passion und die Auferstehung. Kind im Stall? Stattdessen bekommen wir die Sauherde und Legion vorgesetzt. Die Römer scheint er auch nicht leiden zu können.
Ich sag’s ganz offen: ich glaube, dass San Marco ein ziemlich dickköpfiger Heiliger mit einer großen Klappe war. Und der Gedankengang macht ihn mir umso sympathischer.
Ach, und bevor ich es vergesse – von wegen Antiochia, Paulus und Markus. Im Zwiegespräch zwischen San Marco und Don Luca (der die zweifelhafte Gabe hat, den Evangelisten als einziger zu hören), ob jener seine Gemeinde verlassen soll oder nicht, wird genau auf diese Stelle im Leone angespielt:
»Dein Geist braucht Weite«, begann die Stimme. »Und wenn du meine ehrliche Meinung wissen willst, ich halte dich hier bei diesen Dorftrotteln nicht für gut aufgehoben…«
»Das war jetzt aber nicht sehr christlich«, empörte sich der Priester und verschränkte die Arme.
»Ich bin ja auch nicht Jesus, sondern auch nur ein normaler Mensch gewesen. In Ordnung, ich habe diesen einen Bestseller hier geschrieben, aber woher hätte ich denn wissen sollen, dass die Leute mich im Nachhinein sogar zu einem Heiligen machen?«, sprach der Evangelist, fuhr dann fort. »Ich sage eben das, was ich denke. Das hat Paulus damals auch nicht gefallen, ich habe ihm gesagt „nein, ich bin doch nicht bescheuert, ich geh doch nicht von Perge bis nach Antiochia, weißt du eigentlich in welcher Beschaffung der Fußweg da ist?“ aber er wollte ja weiter, pah, Idiot.«
»Und dann bist du Dickkopf einfach alleine wieder nach Jerusalem zurückgereist«, rollte der Geistliche mit den Augen.
Die Stimme schien beleidigt.
»Ich wollte nur verdeutlichen, dass ich eben meine Meinung sage, wenn mir danach ist«, äußerte der Heilige. »Ganz abgesehen davon ist Antiochia völlig überbewertet!«
Guareschi lässt grüßen. Nur darf San Marco eben aufgrund seines Status‘ weitaus politisch unkorrekter sein als Jesus.