Die folgende Erzählung entstammt den Euganeischen Anekdoten.
Im Jahr 800 war ganz Oberitalien von den Franken besetzt. Ganz Oberitalien? Nein! Im Nordosten, in den unzugänglichen Inseln der großen Lagune, leisteten einige unbeugsame Salz- und Fischhändler Widerstand. Der Frankenkönig Pippin wollte dem ein Ende bereiten, und mit einer eigenen Flotte die verstreuten Inseln erobern. Aber wie die griechischen Völker einst die übermächtigen Perser bei Salamis bezwangen, verteidigten auch die verstreuten Lagunenvölker ihre Freiheit.
Buono von Malamocco tat sich in dieser Schlacht besonders hervor. Er war ein erfahrener Kapitän, der mit seinem Schiff das gesamte Mittelmeer befahren hatte, und selbst im Winter sicher zu navigieren wusste. Mit seiner Galeere, der „San Nicola“, schaffte er Seide aus Konstantinopel und Gewürze aus Alexandria heran. Sein Reichtum und seine militärischen Leistungen hatten ihn schnell zum Tribun von Malamocco aufsteigen lassen, seiner Heimatsiedlung, die auf einer langgestreckten Insel am Eingang der Lagune lag. Die Schläue Buonos war legendär, und bevor das Gefecht begann, lockte er mit einer List die Galeeren Pippins in die Untiefen von Rialto. Und ehe sich die Franken versahen, liefen ihre Schiffe auf Grund und boten den Einheimischen ein leichtes Ziel zum Überfall.
Von der Insel Torcello stammte Buonos Steuermann Andrea, den man wegen seiner Schlichtheit und Stärke „Rustico“ nannte. Rustico hatte den Tribun auf vielen seiner Reisen begleitet, sich in Kämpfen gegen Piraten und Franken hervorgetan und das Steuer selbst in den schlimmsten Stürmen gehalten. Die Matrosen behaupteten, dass – wenn Rustico sich auf eine der Ruderbänke setzte – er beide Ruder zugleich bewegen konnte, und sich wie vier Leute in die Riemen legte. So kam die San Nicola auch bei Windstille schneller voran als die dalmatinischen und sarazenischen Piraten, die überall an den Küstenstreifen auf Beute lauerten.
Nach dieser großen Schlacht gingen beide mit der San Nicola auf eine Handelseise in den Orient, denn der Krieg hatte ihre Geldmittel aufgebraucht; nach einer stürmischen Fahrt erreichten sie in der Weihnachtswoche den Hafen von Alexandria. Die einstmals römische Stadt stand seit zweihundert Jahren unter muslimischer Herrschaft, aber die Bewohner waren weiterhin mehrheitlich Christen. Seit der Eroberung hatten beide Gruppen friedlich miteinander gelebt, da die Muslime den Christen keine Sondersteuern auferlegten, wie es sonst üblich war; stattdessen begnügten sie sich mit den normalen Einkünften, der Verwaltung und der militärischen Kontrolle. In der Zeit, als Buono und Rustico die Handelsstadt erreichten, kündigte sich jedoch ein Wandel an: denn im ganzen Reich tobten Unruhen seit dem Tod des alten Kalifen, und einige Herrscher waren unzufrieden mit der Herrschaft des Sohnes. Die Andalusier hatten erst vor kurzem Ägypten überfallen, und in Persien tobte ein Aufstand. Außerdem mussten nun auch die Christen die Sondersteuer entrichten, was zu großem Unmut im ganzen Land führte.
Am Hafen glaubte Buono die Anspannung zu spüren, besonders, weil der Kaiser von Konstantinopel ebenfalls im Krieg mit dem Kalifen lag. Denn die Muslime fürchteten, die Christen in Alexandria könnten eine Revolte anzetteln, und sich wieder dem christlichen Kaiser unterstellen. Die Händler aus der Lagune wurden daher von Wachleuten angehalten, als sie die Stadt betreten wollten:
»Ihr da!«, blaffte der Gardist, »Ihr habt das Kreuz auf eurer Fahne! Woher kommt ihr und was wollt ihr?«
»Wir sind arme Händler aus der Lagune«, antwortete der Kapitän bescheiden und verbarg seine Goldkette. »Wir wollen nur unser Salz verkaufen und das Weihnachtsfest feiern.«
»Lüg mich nicht an! Der Kaiser von Konstantinopel, der Feind unseres Kalifen, ist euer Freund. Ist das nicht so?«
Die Lagunenbewohner zuckten bei diesen Worten zusammen, denn sie verstanden, warum ihre alten Kollegen sie plötzlich hassten: denn der Gardist hatte nicht Unrecht. Der Kaiser von Konstantinopel hatte viele Verträge mit den Seefahrern aus der Lagune. So sandten die Lagunenbewohner Schiffe, wenn dieser im Krieg lag. Dafür verhandelte der Kaiser mit den Franken, wenn letztere die Lagunenbewohner boykottierten.
Als die Seeleute nicht antworteten, sah sich der Gardist bestätigt:
»Wusste ich es doch! Ihr seid Spione des Kaisers und wollt Unruhe stiften! Zurück auf euer Schiff, bevor ich euch einkerkern lasse! «
»Mein Herr, so hört uns doch an…«
»Ihr Schweinefresser seid doch alle gleich! Es ist sinnlos, mit euch zu reden!«
Die Matrosen wichen zurück. Rustico bot seinem Kapitän an, den Gardisten in den Boden zu stampfen, wenn dieser ihn noch einmal anschrie, doch Buono hob die Hand, und dachte nach. Er ließ nach dem Schiffsarzt rufen, dem Juden Elihu ben Moische. Dieser hatte als bekannter Medicus schon viele Männer und Frauen geheilt, nicht nur an Bord der San Nicola. Als der Gardist diesen erblickte, weitete er die Augen. Denn der Medicus hatte einst dem Stadtkommandanten von Alexandria das Leben gerettet, und galt seitdem als ehrenwerter Mann unter den Muslimen. Elihu brauchte daher nicht zu verhandeln, denn kaum, dass der Alte an Land ging, traten die Wächter aus Ehrfurcht zur Seite. Danach gingen auch Buono und Rustico in die Stadt, verkauften ihre Ware und erwarben im Gegenzug jene erlesenen Güter, für die man in Europa mit Gold und Silber bezahlte.
Am Weihnachtsabend begaben sich die Christen in die Kirche, um für eine gute Heimreise zu beten. In der Kathedrale lag das Grab des Heiligen Markus, des ersten Bischofs von Alexandria und des Verfasser des ersten Evangeliums; auch zu dessen Grab gingen die Händler, da man dem Heiligen zuschrieb, er könne seinen Lehrer Petrus beeinflussen, und damit das Wetter. Als die Messe gesprochen war, bemerkten die beiden Freunde jedoch, wie traurig der Priester in die Sakristei heimkehrte. Darauf fragten sie einen Einheimischen, wieso das so sei; der antwortete:
»Wisst ihr denn nicht von den Unruhen in unserem Land?«
Rustico verstand nicht, und entgegnete:
»Was hat der Streit der Muslime mit dem Unmut eines christlichen Priesters zu tun?«
»Der neue Gouverneur von Kairo ist ein schlechter Mann. Er will sich nicht an die Gesetze halten, und die Kirche abbrechen lassen, um aus den römischen Säulen seinen neuen Palast zu bauen. Schon seit langem will Kairo unserem schönen Alexandria den Rang ablaufen. Fresken und Mosaike haben sie bereits zerstört, weil sie Menschen darstellen. Und wir wissen nicht, was danach noch folgen wird, denn die Christen fürchten sich vor weiteren Lasten. Immer mehr wenden sich daher dem Glauben des Propheten Mohammed zu, bevor sie das Martyrium erleiden.«
Buono und Rustico hörten diese Worte und dachten daran, wie bald einer der größten Heiligen der Christenheit in einem muslimischen Land liegen würde. Wer würde sich dann noch um die Grabstätte kümmern? Und was, wenn sie irgendwann ganz verloren ging, weil niemand mehr hier betete, und man das Wissen über den genauen Ort vergaß? Ähnliches war bereits bei anderen Aposteln im Heiligen Land geschehen. Resignierend kehrten die beiden Christen auf ihr Schiff zurück, dachten an den Untergang der Gemeinden in diesem Land und das Schicksal des Evangelisten, der für seinen Glauben gestorben war.
In der Nacht verfolgte den Kapitän ein unruhiger Traum. Ein Löwe verfolgte ihn in der Wüste, und kesselte ihn an einer Felswand ein. Buono fürchtete um sein Leben, als das Untier näher kam, doch plötzlich alles von seiner Schrecklichkeit verlor. Stattdessen umkränzte den Löwen ein helles Licht, in dem sich zwei Flügelschwingen zeigten. Eine Stimme brüllte zwischen Buonos Ohren:
»Du kleingläubiger Salzhändler! Nicht einmal einen Namen hat das Land, aus dem du kommst! Einen Kaiser habt ihr, der euch nicht schützt, wenn euch ein wildes Tier reißt, ob nun Pirat, Franke oder Sarazene. Großes wirst du nur erreichen, wenn du glaubst! Und bedeutend wirst du nur sein, wenn du mir folgst!«
Schweißgebadet erwachte der Händler, stand aufrecht in seiner Matte. Und obwohl es Nacht war, und das Schiff vertäut im Hafen lag, und man den Christen verboten hatte, zu dieser Zeit noch aus dem Haus zu gehen, kleidete sich der Lagunenbewohner an und lief zurück zur Kathedrale des Heiligen Markus. Noch draußen auf der Fassade sah er das Zeichen, das sich ihm eingeprägt hatte, denn über der Türe thronte das Bildnis eines geflügelten Löwen, das die Araber noch nicht entfernt hatten.
Plötzlich tauchte Rustico auf; der Steuermann stellte den Kapitän zur Rede, denn er war ihm durch die dunklen Gassen gefolgt, um zu sehen, was Buono vorhatte:
»Bist du verrückt? Wenn uns die Muslime finden, dann sperren sie uns ein! Vielleicht noch Schlimmeres!«
Da glaubte Buono sich erklären zu müssen, und erzählte Rustico von seinem Traum. Der schien zuerst nicht zu verstehen, bis er ihn auf den Löwen auf der Kirche hinwies: es war der Markuslöwe, der Buono erschienen war. Der deutete es so, dass sie dem Evangelisten helfen sollten, und suchten noch in derselben Nacht den Priester auf. Der gab ihnen die Erlaubnis, den Heiligen Markus mit in ihre Heimat zu nehmen: denn es war besser, wenn der Heilige bei seinen Glaubensbrüder läge, als dort, wo er keine Zukunft mehr hatte.
Als aber der starke Rustico den Sarkophag aus der Kirche schleppen wollte, erwischte die Christen eine Patrouille; der Gardist erkannte die Unruhestifter, hielt sie auf, und forderte von ihnen, darüber auszusagen, was sie hier verloren hätten.
»Wir?«, tat Buono unschuldig. »Wir sind nur rechtschaffene Händler, die diesen schönen Marmorsarkophag auf seinen Preis schätzen sollen. Wahrlich, Ihr wisst ja gar nicht, wie gefragt solche Dienste sind.«
»Ihr Lagunenbewohner ward schon immer sehr listig! Ihr lügt! Ihr wolltet die Gebeine stehlen!«
»Und selbst wenn es so wäre – was interessieren den Anhänger des Propheten die Reliquien eines toten Christen?«
Der Gardist lächelte verschlagen und stützte sich auf sein Krummschwert:
»Tausende von Männern und Frauen kommen Jahr für Jahr, nur, um dieses Grab zu schauen. Die Religion interessiert mich nicht, aber die Einkünfte daraus bleiben beim Herrscher. Ließe ich euch gehen, so kämen die Pilger zuletzt in eure Stadt und nicht zu uns; ich befehle euch daher – bringt den Sarkophag zurück, oder ich schlage euch beiden die Hände ab!«
Grimmig kamen die Christen der Aufforderung nach. Unter den Augen des Gardisten brachten sie den Heiligen zurück an seinen Platz. Darauf verbannte er sie auf ihr Schiff, und befahl, dass sie am nächsten Tag abfahren sollten.
Doch schon vor der Dämmerung weckten die Wächter den Gardisten aus seinem Schlaf; jemand habe beobachtet, wie die frechen Salzhändler sich erneut des Heiligen bemächtigt und diesen auf ihr Schiff gebracht hätten. Voller Wut trommelte der Gardist alle seine Männer zusammen, raste zuerst zur Kirche, um festzustellen, dass man den Sarkophag tatsächlich entfernt hatte; und dann zum Hafen, wo sich die Seefahrer bereit zum Ablegen machte. Im letzten Moment hielt er sie auf – und schickte die Zöllner an Bord, die das ganze Schiff von oben bis unten durchsuchen sollten.
Die Salzhändler warteten am Steg, und mussten tatenlos zusehen, wie die Muslime die San Nicola von oben bis unten absuchten. Plötzlich durchbrach ein Schrei die Ordnung: „Kinzir, Kinzir!“ rief jemand in Panik. Die anderen Zöllner schreckten schlagartig zurück, denn eine große Ladung gepökelten Schweinefleisches überdeckte die Galeere am Bug. Keiner der Muslime wagte es, sich dem unreinen Fleisch nur zu nähern, stattdessen verließen sie nacheinander das Schiff. Auch die Wachleute wagten sich nicht vor.
Der Gardist schaute abfällig zu den Matrosen und ihrem Kapitän, die darüber schmunzelten.
»Glaubt mir, ich habe Euer Spiel durchschaut – und könnte ich etwas tun, ich würde etwas unternehmen«, raunte er zu Buono. »Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?«
Buono legte die Arme zusammen und lächelte kühl:
»Wir sind listige, lügnerische, schweinefressende Salzhändler aus der Lagune.«
Darauf setzte die San Nicola Segel, und die Männer legten sich in die Riemen. Nach Wochen erreichten sie ihre kleine Heimat in der Lagune. Sie gingen an Land, wo sie bereits von den Stadtältesten empfangen wurden – denn die Nachricht über den Streich hatte sich bereits vorher über andere Händler verbreitet, und das Volk war gekommen, um den Heiligen zu sehen, den man aus dem Orient mitgebracht hatte. Selbst der Dux, der Herrscher über das kleine Inselreich, erwartete ihre Rückkehr und breitete die Arme aus, als er die Rückkehrer sah:
»Mir scheint, niemals wurden zwei Ladendiebe so feierlich begrüßt wie ihr beide«, lächelte er, und schaute dann auf den Sarkophag. »Bringt den Heiligen an Land, wir werden eine Kirche bauen, die wir alle besuchen werden, im Gedenken an ihn und eure Tat. Er soll ganz unser Symbol werden und unser kleines Volk schützen. Denn so ein großer Patron verlangt große Ehre.«
Den ehrlichen Rustico kniffen jedoch Gewissensbisse, als man den Sarkophag unter dem Schweinefleisch barg und an Land brachte. Er dachte an die im Scherz gesagten Worte des Dux. Da sich die Träger mit der Reliquie entfernten, wandte er sich leise an seinen Freund. Denn ihn beschlich das Gefühl, dass er vielleicht sein Seelenheil aufs Spiel setze, da sie immerhin einer Kirche ihren Bischof entwendet hätten. Einige konnten das als Diebstahl, womöglich als Raubüberfall deuten. Der gottesfürchtige Rustico sorgte sich daher darum, ob sie etwas Falsches getan hätten.
Darauf klopfte ihm Buono brüderlich auf die Schulter, und lächelte ihm gewinnend zu:
»Du Schelm! Wenn San Marco nicht gewollt hätte, mitzukommen – dann hätte er es verhindert.«