Johannes Fried und die Gartenzwerge

24. November 2015
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Historisches | Italianità und Deutschtum | Medien

Liebes Tagebuch,

kennst du Johannes Fried? Johannes Fried ist ein deutscher Historiker. Gut, das muss nichts heißen, denn Guido Knopp ist ja auch einer (doch sieht er aus wie ein dunkler Friseur). Aber jetzt im Ernst: Johannes Fried ist nicht irgendwer in der Szene. Der Mann hat einige der bedeutendsten deutschen Forschungsbände zum Mittelalter geschrieben. Jeder Student, der in den letzten 20 Jahren studiert hat – oder es heute tut – kommt schwer um ihn herum. Eine Auswahl:

Die Formierung Europas 840–1046. Ein Geschichtshandbuch vom Oldenbourg-Verlag. Heißt: Studenten, die Geschichte studieren, und sich zum ersten Mal mit dieser Epoche befassen, greifen automatisch zu diesem Buch.

Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. Wurde über die Fachwelt hinaus recht berühmt und führte auch dazu, dass Fried einem breiteren Publikum bekannt wurde. Zumindest gilt er seitdem als „Experte“, heißt, er darf wie Herfried Münkler manchmal in der Quantitätspresse schreiben.

Also, liebes Tagebuch, du siehst, der Johannes Fried ist durchaus ein bedeutender Mann. Daran kann wohl keiner zweifeln. Aber: wenn Medien jemanden hochjubeln, sollte man immer aufpassen. Denn es gab auch einige Behauptungen, die unser Professor tätigte, die – nun ja – nicht ganz auf die Zustimmung der Fachwelt stießen.

Du fragst, was der schlaue Hannes denn so gesagt hat? Ach, nichts Besonderes. Nur, dass es den heiligen Benedikt von Nursia nie gegeben hätte. Du weißt schon. Begründer des abendländischen Mönchslebens und so. Vater von Montecassino. Stimmt, das ist der, der den Benediktinerorden gründete. Samt Regel und so.

Klingt nicht so schlimm? Doch, für einen gestandenen Mediävisten schon. Das ist so, als behauptete man, Pippin und Karl den Großen hätte es nie gegeben. Denn Fried argumentiert ähnlich: keine Quellenlage, viele Übereinstimmungen mit anderen Personen (hier: Papst Gregor der Große, der Vorbild für den legendären Benedikt gewesen sein soll), ergo: Benedikt, die mythische Lügenfigur. Ganz heißes Eisen.

90% sind gegen diese Theorie. Fried hält weiterhin daran fest. Kann ja auch sein, dass er Recht hat. Will ich nicht ausschließen. Dennoch, liebes Tagebuch, du siehst, der Johannes Fried, der ist – wie sagt man im Journalistenjargon heute noch so schön? – umstritten. Umstritten ist auch die Bewertung Frieds, dass der Gang nach Canossa ein Sieg Heinrichs IV. gewesen sei.

Nochmals zur Erinnerung: der Papst exkommuniziert Heinrich. Die Großen des Reiches werden unruhig, weil damit auch das Lehensverhältnis erlischt. Es bildet sich eine Koalition gegen Heinrich. Der flieht dem Papst in Italien entgegen, trifft ihn bei Canossa im Büßergewand, und bittet als Sünder um Vergebung und um Wiederaufnahme in die Kirche. Der Papst nimmt das an, Heinrich ist entbannt und kehrt nach Deutschland zurück.

Und das wertet Fried als Erfolg, nicht als Niederlage. Wenn man tagelang im Schnee, irgendwo im gottverlassenen Apennin vor einer Burg rumhängt, der Schnee einem um die Nase bläst, und der Papst ab und an aus dem Fenster schaut, ob der Heinrich immer noch da steht, unterbrochen von Mathilde von Tuszien, die im Hintergrund fragt, wer eigentlich der Vagabund vor der Türe sei, und ob man den nicht endlich reinlassen wolle – dann ist das ein Sieg auf der ganzen Linie für das Kaisertum. Denn: der Papst hat ihn ja wieder aufgenommen. Blöd nur, dass der Papst als Priester das sowieso tun muss, weil Pflicht (Vergebung der Sünden, schon mal davon gehört?).
Insofern kann der Papst gar nicht anders.

Auf Heinrichs Mist ist das nicht gewachsen, und mit kaiserlicher Machtpolitik hat das noch weniger zu tun. Denn auch die Wiederaufnahme in den Schoß der Mutter Kirche hindert die Großen daheim nicht daran, gegen den Salier aufzustehen und zu rebellieren, als er über die Alpen zurückkehrt. Aber gut, manche Historiker lieben ja ihre Theorien immer mehr als die Fakten. Dass diese Szene aber ein Präzedenzfall dafür ist, dass das Papsttum zum ersten Mal die Oberhand über das Kaisertum erhält – Heinrichs Vater setzte noch Päpste ab und wählte neue! – so ist das ein ganz gewaltiger Sieg für die Kirche und deren Anspruch, nicht dem Kaiser untertan zu sein. Alle Nachfolger auf dem Stuhle Petri können auf dieses Ereignis verweisen!

Jetzt ist die Frage berechtigt: worauf will ich eigentlich hinaus? Nun, Fried hat neulich ein Buch rausgebracht, über die Anfänge der Deutschen. Er schreckt allerdings nicht davor zurück, sich zugunsten des öffentlichen Rampenlichts einspannen zu lassen, und dann auch noch auf Nachfrage zu behaupten, die Protagonisten seines Buches gäbe es gar nicht.

„Was deutsch ist, lässt sich nicht wirklich bestimmen“, urteilt der Mittelalter-Historiker Johannes Fried. Ausführlich beschäftigt er sich mit dem Thema in seinem Buch „Die Anfänge der Deutschen“, das kürzlich in überarbeiteter Auflage neu erschienen ist.

„Schon gar nicht existiert ein zeitlich weit zurückreichendes und nach außen abgrenzbares deutsches Wesen“, ergänzt der Forscher. Die Deutschen seien kein gottgegebenes Volk, sondern ein zusammengewürfeltes Vielvölkergemisch. Erst im Laufe des Mittelalters hätten sich die Angehörigen verschiedener Stämme selbst als Deutsche begriffen.

Jetzt mal ernsthaft: erst behauptet Fried, man könne nicht bestimmen, was deutsch sei. Und dann am Ende – schwupps! – gibt es plötzlich Deutsche. Also, wenn es keine Deutschen gibt, aber auf einmal Deutsche entstehen, dann… das ist mir jetzt doch etwas zu hoch. Ethnogenese, das verstehe ich schon, von wegen, Völkerentstehung und so. Aber anscheinend kann man nicht definieren, was deutsch ist, aber Deutsche, die entstehen.

Nur, es gibt sie nicht. Bitte?

Vermutlich muss man mit Neurologen gearbeitet haben – denn Johannes Fried ist auch noch Berufsrevolutionär, der die Geschichtswissenschaft naturwissenschaftlich puschen will, und deshalb sind Neurowissenschaften bei ihm ganz wichtig – um das zu verstehen.

Leider ist das noch nicht alles:

„Deutsche Werte gab es nie“

Und:

Die Frage nach dem, was „deutsch“ ist, kann auch die Geschichte nicht beantworten. Doch gibt es wirklich nichts, was die Deutschen von anderen Völkern unterscheidet? „Mir fällt da höchstens noch der Gartenzwerg mit seiner Spießigkeit ein, den haben die anderen nicht.“

Perdona mi, aber so viel Unfug dürfte ein Lehrstuhl doch allein gar nicht produzieren können, oder? Im Umkehrschluss heißt das also, dass, nähme man den Gartenzwerg weg, dann wären die Deutschen, die irgendwann im Mittelalter entstanden sind (und irgendwie doch nicht), gewissermaßen austauschbar?

Allein was ich an mentalen Steilklippen zwischen Italien und Deutschland erlebt habe, lässt für mich den Umkehrschluss zu, dass Fried schon lange nicht mehr an der Luft war. Ich glaube, ließe ich mal meine Eltern übereinander urteilen – italienischer Vater, deutsche Mutter – so würden sich nach wenigen Sekunden eine ganze Anzahl von Dingen ergeben, die als typisch deutsch tituliert würden. Angefangen mit dem Teppichboden, den alle Deutschen in ihren Häusern in Italien verlegen müssen, wenn sie umgezogen wird – was italienische Kinder wiederum mit großen Augen und Parolen wie „wow, ist das gemütlich (!) bei euch!“ titulieren – bis hin zu der gewaltigen Ungeduld, dass Deutsche immer alles jetzt, sofort und nicht gleich erledigen müssen, selbst, wenn sie sich damit das Leben zur Hölle machen. Ich habe auch noch nie den oft gehörten deutschen Spruch „da muss ein Gesetz her!“ (mit allen seinen Abwandlungen) aus dem Munde eines Italieners vernommen.

Das ist natürlich nicht das akademische Niveau von Herrn Fried, der sich eher in Gartenzwergkunde auskennt, aber wenn er schon mit solchen Argumenten kommt, ist es schwer, nicht darauf einzusteigen. Etwas seriöser gesprochen: gerade ein Mittelalterhistoriker sollte doch auch um die Geschichte seines eigenen Fachs wissen. Die Monumenta Gaermaniae Historica, die Sammlung nahezu aller relevanten mittelalterlichen Quellentexte, entstand im 19. Jahrhundert aus glühendem deutschen Nationalismus, um den Ursprung des Deutschtums auszuforschen. Auf jedem dieser dicken Wälzer, die Fried in seinem eigenen Studentenleben durchblättert hat, steht in dicken Lettern:

Sanctus amor patriae dat animum – Die heilige Vaterlandsliebe gibt den (rechten) Geist.*

Das Mittelalter ist die Konzentrationsfläche der deutschen Romantik, und die Romantik wiederum Urgrund der deutschen Mittelalterbegeisterung. Innigkeit, Naturverliebtheit und Sehnsucht wären mal Anfangsgedanken. Der Gartenzwerg ist letztendlich nur ein Spross aus diesem ganzen mythisch-romantischen Geflecht. Auch die Behaglichkeit und Gemütlichkeit, die ich im Zuge des bewunderten Teppichbodens („Kann ich öfters zu euch kommen“?) andeutete, gehört dazu. Man könnte noch viele anderen, typisch deutschen Eigenarten nennen: Prinzipienreiterei, beispielsweise. Dazu gehört auch, dass man bis ins kleinste Detail geht, und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, bis das eigene Ideal die Wirklichkeit ablöst.

Ich erinnere noch mal an die umstrittensten Geister dieses deutschen Idealismus: Luther, Hegel, Marx. Der Deutsche hatte immer den Hang zur Theorie, welche die Realität ablösen soll; eine geplante Ordnung, in der man sich einfügen kann. Leben wird gedacht.
Das ist das Gegenteil zu den meisten Romanen, die das Leben eher nehmen, wie es ist, und ändern, wenn es ihnen nicht mehr passt. Leben ist.

Als Italiener mag ich nur hinzufügen: typisch deutsch ist Fried selbst, indem er mal wieder nicht über den Tellerrand Mitteleuropas schauen kann. Dann würde ihm als tumber Teutone auffallen, dass die Völker Europas eben nicht gleich sind, nur, weil er das glaubt. Oder glaubt er tatsächlich, die Italiener hätten den Deutschen einen Namen gegeben, weil so gar keine Unterschiede existierten? Fried ist genau das, was er anderen vorwirft: ein gemütlicher, selbstverliebter, unromantischer, langweiliger Spießer, der sich das Leben zurechtdenkt – statt zu sehen, dass Millionen von Menschen sich als Deutsche bezeichnen, ohne dass sie darüber nachdenken, wieso.

Dazu – pardon! – existieren in der Geschichtswissenschaft eine ganze Zahl von Antworten, und zwar schon vor dem Zeitalter des Nationalismus. Und auch vor Frieds sagenhaftem Buch, das kürzlich als Neuauflage erschienen ist, und für das er natürlich niemals nie irgendwie Werbung machen würde, durch – sagen wir – eine radikale These, welche die Bekanntheit erhöht und den Verkauf mächtig ankurbelt.

Ach, wie wahr, gut und schön ist doch die Wissenschaft.

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*Nochmal verständlicher: wenn ich im 19. Jahrhundert davon ausgehe, dass ich mich als Deutscher sehe, und von Heiliger Vaterlandsliebe schwafele, dann schienen zumindest damals die Leute recht gut zu wissen, was „deutsch“ sei. Haben die sich alle geirrt?

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