Der Tod des Marco Polo

8. Januar 2014
Kategorie: Die Tochter des Marco Polo | Hintergrund und Schreibarbeit | Historisches | Venedig | Zum Tage

Es existieren Menschen in unserem Leben, die haben wir niemals gekannt – und uns doch mehr geprägt und inspiriert als manche Person, die uns tatsächlich begegnet ist. Das Leben Marco Polos darzustellen erübrigt sich zu diesem Datum; nicht nur schlägt man heute zu jedem mickrigen Anlass die Wikipedia auf, es existiert auch auf dieser Seite bereits ein Abriss über alles Wissenswerte.

Dennoch kommt man nicht umhin, den 690. Todestag dieses Venezianers, dieses Kaufmanns, dieses Reisenden in Erinnerung zu rufen. Das soll hier – ähnlich wie beim Artikel zum Principe – auf andere Weise stattfinden. Spricht man von Marco Polo, rückt der Protagonist des Geschehens nahezu immer in den Hintergrund. Wichtig ist nicht Marco Polo, sondern das Milione. Der Grund: bereits im Milione selbst tritt Marco Polo in den Hintergrund. Er ist präsent als Erzähler, aber nicht als fassbare Figur. So, wie wir (bisher) keine Quellen zu seinem Aufenthalt in China finden. Das schließt aber eben nicht aus, dass er nicht auch anwesend war.

Die Geschichte des Marco Polo sagt auch etwas über die Geschichte selbst aus. Womöglich ist die Geschichte als solche keine Geschichte von Großen Männern. Die Geschichte ist aber eben auch keine von Systemen. Man mag nun postulieren: ohne das Reich des Großkhans, ohne dessen Reisepass (Paiza) und dessen befriedete Routen wäre kein Marco Polo möglich gewesen. Die Umstände haben ihn begünstigt. Dem muss man insofern widersprechen, dass, obwohl es dieses System gab, dennoch viele vor einer Reise nach Osten zurückgeschreckt sind. Denn auch die Umstände der Mentalität hatten sich geändert. Schließlich waren die Mongolen im Westen als Geißeln Gottes, als Monster aus der Unterwelt verschrien. Man hatte bei Liegnitz seine Erfahrungen gemacht, vom Massaker in Bagdad gehört. Man kannte die Geschichten von unzähligen Pyramiden aus aufgeschichteten Totenschädeln, die arabische Flüchtlinge den Kreuzfahrern – und damit den Europäern erzählten. Diese Furcht, dieser Schrecken – ob legendarisch oder nicht – wird vergessen, wenn man die Vorteile betont. Dass die beiden Geistlichen, welche die Familie Polo nach Canbaluc begleiten sollten, bereits in Armenien wieder umkehrten, ist nur ein Symptom dafür.

Dass die körperlichen und wirtschaftlichen Strapazen immer noch enorm waren, muss wohl nicht ausgeführt werden.

Die Geschichte ist daher eben nicht nur Raum und Zeit, und nicht nur Umstand oder großer Politiker. Die Geschichte ist zuerst einmal: das, was Menschen getan haben. Dass die drei Polos nach Osten zogen, war eine enorme Herausforderung. Dass sie es dennoch taten, eine menschliche Leistung. Natürlich wollte man handeln. Natürlich wollte man reich werden. Es handelte sich hier um drei Kaufleute aus Venedig! Und dennoch, diese Reise hatte welthistorische Bedeutung, denn im Gegensatz zu den anderen italienischen Reisenden, die anonym im Fernen Osten ankamen, dort blieben und ansässig wurden, hinterließ Marco Polo Spuren, die bis heute überleben. Der Einfluss derselben wird viel zu sehr unterschätzt. Eben weil Geschichten die Geschichte inspirieren – und die Geschichte zu Geschichten.

Fassen wir zusammen: da reist ein venezianischer Junge von 17/18 Jahren mit Onkel und Vater bis ans damalige Ende der Welt, wo dort die blutsaufenden, allermächtigsten Mongolen leben, die Europa und den Nahen Osten in Schrecken versetzen. Im Mittelalter. Als Christ. Und alle Vorurteile, die man über diesen Reisenden haben könnte, halten sich kaum, wenn man den Bericht liest. Denn im Gegensatz zu jenem Bild, das Filme wie „Die Pilgerin“ zeigen, war das Mittelalter zwar mentalitätsmäßig belastet, so wie jede Zeit – heute nennt man dies „Zeitgeist“. Dass aber Marco Polo von Heiden spricht, ist zumeist eben nicht abwertend gemeint, sondern in Ermangelung anderer Begriffe für Nichtchristen gewählt.

Wenn demnach Marco Polo auf seiner Rückreise über Indien nach Sri Lanka gelangt, und dort die Geschichte der Wandlung von Siddharta zu Buddha erzählt, dann liegt Bewunderung in seiner Stimme. Er nennt ihn nicht nur einen Heiligen, sondern stellt ihn an die Seite von Christus selbst, wäre er ein Christ gewesen. Natürlich kann nach der Vorstellung des mittelalterlichen, christlichen Menschen ein Nicht-Christ nicht Anteil am Heil besitzen; dennoch gesteht der Erzähler mit Bewunderung und Respekt zu, dass dieser eine Mann nicht nur außergewöhnlich war, sondern in den Bereich der Heiligen gehört. Das sollte das Bild jener, die mit dem Mittelalter nur Kreuzzüge verbinden und die Toleranz und Vernunft allein dem Zeitalter der Aufklärung zugestehen, erheblich aufrütteln. Ebenso spricht Bewunderung über die Verwaltung der Millionen von Menschenleben und Güter in Ostasien heraus, seien es die Versorgung von Festen, von Städten oder technische Errungenschaften. Polo ist von der fremden Welt fasziniert. Wenn er die Werte vielleicht nicht immer teilen mag, er geht vorurteilsfrei und neugierig an die Sache heran, wie auch ein Philosoph, ein Wissenschaftler, ein Künstler ohne festes Weltbild seine Arbeit tun sollte, um diese zu verrichten.

Forscher und Entdecker sind nicht nur dem Worte nach oft Synonyme.

Diese Bewunderung der „Millionen Wunder“ packte vermutlich auch die Leser des Milione, welches neben der Bibel und der Göttlichen Komödie ein Bestseller des mittelalterlichen Europa war. Karten wurden nach diesem Buch ausgerichtet, astronomische Daten verglichen. Für die Welt jenseits des Euphrat und Tigris war das Milione ein Standartwerk geworden. Und es waren eben jene Wunder, jene Reichtümer, die Christopher Kolumbus, mehr als 150 Jahre nach Marco Polos Tod, zu seinen Reisen beflügelten. Eine Kopie des Milione hatte er immer bei sich, versah es mit Notizen, hoffte eben jene sagenhaften Länder zu finden. Auch hier ein Mann, der sich trotz aller Widerstände – und eigener Fehler – auf etwas einließ, was kaum jemand gewagt hatte. Ihn hatte Marco Polo und dessen Geschichte inspiriert, und er dadurch ein neues Kapitel aufgeschlagen – wenn auch eines, von dessen Tragweite er selbst wohl nur wenig erahnen konnte. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass es ausgerechnet ein Genuese sein sollte, der einen Venezianer beerbte.

Nicht weniger Faszination übte das Milione auf die Portugiesen, die Niederländer und Engländer aus, die von den Märchenwelten des Ostens und dem Gewürzreichtum träumten, den sie dort abzugraben hofften – auf Kosten der Heimat des Marco Polo. Das Milione war eine inspiratorische Triebfeder für ökonomische Träume. Die Berichte des Odorico von Pordenone oder des Niccolo di Conti hatte nicht ansatzweise diesen „Impact“, wie man es heute nennen würde. Eine Säule europäischen Entdeckergeistes – und später: Expansion – ist damit die Geschichte jenes abendländischen Kaufmanns, der das Ende der Welt bereiste, und seinen Landsleuten davon erzählte.

Daher ist Marco Polo so eine faszinierende Gestalt der Geschichte. Er hat keine Kriege geführt, keine Reiche unterworfen. Er hat auch keine technische Errungenschaft vorzuweisen. Kein Wissenschaftler, kein Adliger. Er war auch kein Künstler – wenn man auch hinzufügen muss, dass sein Kollege Rustichello da Pisa aus seinem Buch literarischen Stoff zu machen versuchte. Marco Polo gehörte nicht einmal einer sonderlich reichen Familie an, es waren er und die Männer, die er begleitete, welche die Familie Polo wohlhabend machte. Und dennoch hat dieser Kaufmannssohn die Welt mehr bewegt, mehr Leute inspiriert, und mehr Steine angestoßen als mancher Kriegsherr.

Er war ein venezianischer Kaufmannssohn. Alles andere hat er selbst geschaffen.

Und ist damit ein Sinnbild für die Geschichte, welche sich Menschen sucht – und von Menschen gemacht wird.

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