[…]
Venedig war nicht weniger katholisch als andere italienische Städte. Klöster, Stifte und Privatkapellen prägten das Stadtbild. Es gehörte zum guten Ton innerhalb der Kaufmannsfamilien, einen Teil des Erbes an den Klerus zu spenden – oder bei mangelnden Erben sogar das ganze Vermögen. Kaum eine christliche Macht hat sich einer Heiligen Liga so oft angeschlossen wie Venedig. Zeichen, Wappen und Flaggen der Republik prägte der Evangelist, später der geflügelte Löwe, der als Herrschaftszeichen den Nordosten Italiens und die Küsten der Adria bis nach Griechenland und Zypern dominierte. „Viva San Marco!“ wurde zum Schlachtruf der Venezianer, der jahrhundertelang zu Wasser und zu Land schallte und selbst noch die venezianische Mannschaft an Bord der österreichischen Flotte von Konteradmiral Tegetthoff zum Sieg bei der Seeschlacht von Lissa anspornte – rund 70 Jahre nach dem Untergang der Republik 1797.
[…]
Die Überzeugung, einer „ewigen Republik“ anzugehören, die unter dem besonderen Schutz des Evangelisten stand, führte zu einer Verbindung von christlichem Heiligenkult und prä-nationaler Einstellung; das Wort „marciano“ bürgerte sich als Bezeichnung für diejenigen ein, die sich der Republik verpflichtet fühlten.
[…]
Der Katholizismus im Allgemeinen und der Heiligenkult im Besonderen waren damit eine Triebfeder patriotischer Emotionen der Republik des San Marco. Ein Phänomen, das nicht nur für Venedig, sondern nahezu alle italienischen Kommunen galt, etwa Mailand oder Brescia. Die Genueser kürten 1637 Maria zum Oberhaupt der Republik, um sich den europäischen Monarchien gegenüber als gleichwertig zu präsentieren – angesichts des Idealmodells einer königlich-christlichen Herrschaft galten Republiken als „minderwertig“. Doch was für ein Argument war das, wenn der Evangelist Markus, der Kirchenlehrer Ambrosius oder gar die Gottesmutter als eigentliches Oberhaupt den Staat führten?