„Es ist ein grundlegender, anhaltender Konflikt, der mindestens zur Französischen Revolution zurückreicht, dessen Wurzeln sich aber weit tiefer in die europäische Geschichte hineinbohren. Es ist der Konflikt, die eigene Tradition und Herkunft mit den Ansprüchen der Moderne in Einklang zu bringen. Es ist zugleich ein Konflikt, den Europa überwunden glaubte, der aber heute mehr denn je gärt. Die Geschichte des „kurzen 20. Jahrhunderts“ stellt sich rückblickend als Parenthese heraus: totalitäre Ideologien, Diktaturen und der Kalte Krieg haben die Sinnkrise des „Fin de siècle“ nur eingefroren, sie aber nicht gelöst. Die Gegenwart gelangt demnach nicht an das Ende der Geschichte, sondern ist eine Fortsetzung des 19. Jahrhunderts.
Die Zuckungen dieser Rückkehr des 19. Jahrhunderts treten in der europäischen Tagespolitik offen zutage. Der Brexit ist kein Bruch mit der europäischen Geschichte. Er ist auch mehr als der Taschenspielertrick eines begnadeten Rhetorikers. Er war angesichts eines Volkes, das mentalitätsmäßig immer noch in den Zeitlinien des Empires „fühlt“ gar nicht anders möglich. Die britischen Interventionen auf dem Kontinent begründete stets der Gleichgewichtsgedanke, keine Hegemonialmacht auf dem Festland zuzulassen. Die „splendid isolation“ beschreibt den historischen britischen Charakterzug deutlicher als Vereinigungsfantasien. Großbritanniens Rückkehr in seine historischen Bahnen war daher eine Hypothek, die abbezahlt werden musste und nicht etwa eine Entgleisung auf dem sicher geglaubten Weg ins Brüsseler Reich.
In Spanien dagegen opponiert eine linksextreme Regierung gegen Klerus und Tradition. Die seit Jahren schwierigen Regierungsbildungen, die Kontroverse um die eigene Vergangenheit und Zukunft sowie die Unbeherrschbarkeit einer ganzen Region wecken Erinnerungen an ein Jahrhundert der Wirren, als die einstmals stolze katholische Nation Opfer rivalisierender Ideologien wurde.
Indes geistert nicht nur in Deutschland das nebulöse Wort eines „Great Reset“ zwischen den Zeilen. Der Ruf schallt, dass es eine „Revolution“ bräuchte, auf dem Land liege der „Staub von 200 Jahren“. Nicht ein populistischer Rädelsführer auf dem Marktplatz hat in dieses Horn gestoßen, sondern der Fraktionsvorsitzende der größten deutschen Partei im Bundestag, die seit 16 Jahren regiert. Die Sehnsucht nach einem „reinigenden Gewitter“ ist groß.“
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„Es gilt dabei nicht nur einer Renaissance europäischer Werte das Wort zu reden. Dass die Sinnkrise Europas nicht direkt nach der Revolution begann, sondern in der langen Friedens- und Wohlstandszeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg, resultiert nicht zuletzt aus der Kunst der damals noch jungen Nationalstaaten, Tradition und Moderne zu verbinden. Die Gegenwart sieht dagegen einen Widerspruch in einem autobegeisterten Kaiser oder einem Märchenkönig, der einen hochtechnisierten Hof hielt. Die hochaustarierte Restauration nach dem Wiener Kongress wird zum reaktionären Schreckgespenst verklärt. Es herrscht die Parole von Maß und Mitte, obwohl sich die Gegenwart gerade dadurch auszeichnet, maßlos in der Anwendung ideologischer Werkzeuge zu sein; indes sie mittellos ist, wenn es darum geht, die Widersprüche von Tradition und Moderne zu lösen, weil die Tradition in den Augen der Federführer ihre Gleichwertigkeit verloren hat.“