Die USA sind eine frühneuzeitliche Republik. Sie folgt in ihrem Zeremoniell und ihren Symbolen vielfach der Tradition des britischen Königreichs oder der Republik Venedig. Ein schnörkelloser Funktionalismus, wie ihn die Berliner Republik auszeichnet, bleibt den als kapitalistisch-materialistisch verschrienen Vereinigten Staaten, die zwanzig Jahre vor dem Untergang Alteuropas gegründet wurden, fremd. Deutlich zeigt sich dies im Oval Office, das als Arbeitszimmer des Staatsoberhauptes zugleich einen Repräsentationsraum der Republik abbildet. Er verkörpert die Kontinuität von Amt und Staat. Zugleich setzt jeder Präsident individuelle Noten. Sie betonen Regierungsverständnis, Regierungsdevise und Regierungsstil. Was den Päpsten Motto und Wappen, das ist den Präsidenten der USA ihr Oval Office.
Der Amtsantritt eines neuen US-Präsidenten begleitet damit zugleich eine Aussage über seinen Vorgänger. Als Beispiel mag die Churchill-Büste dienen, die George W. Bush vom britischen Verbündeten geschenkt bekommen hatte, und als Zeichen besonderer Verbundenheit mit London aufstellte; Barack Obama entfernte sie, Donald Trump stellte sie wieder auf. Joe Biden hat sie neuerlich entfernt und durch eine Büste des Gewerkschaftsführers Cesar Chavez ersetzt. Ob Biden damit das Arbeitermilieu der Demokratischen Partei herausstellt, die Bürgerrechtsbewegung honoriert, die hispanische Minderheit repräsentiert oder die Verquickung katholischer Soziallehre mit linker Politik anstrebt ist Interpretationssache. Der Austausch reiht sich jedoch in eine ganze Reihe von trumpschen Objekten, die Biden aus dem Büro entfernt hat.
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Kurz gesagt: abgesehen vom „Resolute Desk“ dem Schreibtisch, den die US-Präsidenten seit Kennedy am häufigsten verwendet haben und der Büste von Martin Luther King bleibt so gut wie keine Erinnerung an das alte Präsidentenbüro erhalten. Dass Biden die goldenen Vorhänge behielt, ist wohl einzig auf den Umstand zurückzuführen, dass diese aus Bill Clintons Amtszeit stammen.
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Auf den ersten Blick mögen solche Veränderungen subtil wirken; in Anerkennung des Oval Office als Thronraum der amerikanischen Demokratie sind sie jedoch ein politisches Programm, das nur eine Facette der Bewältigung der Trump-Jahre offenbart. In der Herzkammer ihrer Republik, dem Maggior Consiglio, hat Venedig sämtliche Dogen portraitiert. Über den Dogen Marino Falier ist dagegen ein gemaltes, schwarzes Drap ausgebreitet. Falier wurde beschuldigt, einen Staatsstreich versucht zu haben, wurde dafür hingerichtet und sein Andenken öffentlich geächtet. Die damnatio memoriae als „Verdammung des Andenkens“ war bereits im Alten Ägypten eine geläufige Form.
Die westliche Tradition ist dabei in der römischen Geschichte zu suchen: nicht die Tilgung im Sinne des Vergessens, sondern das „Aufmerksammachen“ auf das „Vergessenwollen“ war Kern der politischen Praxis der „abolitio nominis“. Personen wurden nicht wie in George Orwells Roman 1984 nach Stalins Vorbild aus der Geschichte ausradiert. Vielmehr sollte das fehlende Fragment offensichtlich sein und die Person erniedrigen.
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