Herr Eibner, in den Medien nehmen Menschenrechtsverletzungen vonseiten Aserbaidschans immer breiteren Raum ein. Baku dementiert das als armenische Propaganda. Wie ist das zu bewerten?
Amnesty International berichtet vom Streubombeneinsatz gegen die armenische Zivilbevölkerung. Die Hälfte der Bevölkerung Bergkarabachs wurde zur Flucht gezwungen. Es gibt außerdem glaubwürdige Berichte über die Enthauptung armenischer Zivilisten. Das sind Verstöße gegen fundamentale Menschenrechte, gleich, was die Informationskrieger Aserbaidschans und ihre Verbündeten sagen.
Es wäre aber zu kurz gesprungen, den Krieg in Bergkarabach nur als lokalen Konflikt zu sehen, in dem Menschenrechte verletzt wurden. Er ist von einer viel wichtigeren historischen Größenordnung, wenn man ihn als jüngste Episode des historischen Prozesses des Genozids an den Armeniern interpretiert. Dieser Prozess begann mit den Massakern in der Türkei am Ende des 19. Jahrhunderts und kulminierte im Völkermord während des Ersten Weltkrieges. Nach Kriegsende folgte das Massaker durch muslimische Turkvölker im Kaukasus, insbesondere in Bergkarabach. Der Prozess setzte sich in den frühen 90er Jahren fort. Das Muster einer ethnisch-religiösen „Säuberung“ der Armenier in ihrem anatolischen und transkaukasischen Heimatland ist klar.
Wie sieht es mit dem Schutz christlichen Kulturgutes aus, das nun unter aserbaidschanische Kontrolle fällt?
Bergkarabach ist reich an alten Kirchen und anderen christlichen Denkmälern. Das ist der armenischen Nation angemessen, die sich im Jahr 301 zu Christus bekehrte. Während des jüngsten Krieges wurden christliche und andere Kulturdenkmäler beschädigt. Das bemerkenswerteste Beispiel ist die Kathedrale von Schuschi, die von aserbaidschanischen Raketen am 8. Oktober beschossen wurde. Der Erzbischof von Bergkarabach, Pargev Martirosyan, ist überzeugt davon, dass die Attacke die Bevölkerung „demoralisieren“ sollte und „klassisches Verhalten von Terroristen“ darstelle, die „kulturelle, spirituelle und religiöse Werte“ nicht aushalten könnten.
Traditionell war Schuschi das kulturelle und religiöse Zentrum der Region. Das Schicksal der Stadt spiegelt die Prüfungen und das Leiden seiner armenischen Bevölkerung wider. Die Kathedrale wurde 1920 schwer beschädigt, als die dortigen Armenier massakriert wurden. Sie litt unter der antichristlichen Politik der sowjetischen Kommunisten und der aserbaidschanischen Ultranationalisten. Erst nach dem armenischen Sieg im Bergkarabachkrieg wurde sie Ende der 90er restauriert und wiedereröffnet.
Unter der neuen aserbaidschanischen Administration ist die Zukunft der Kathedrale ungewiss. Sollte sich die Vergangenheit wiederholen, dann dürften wir nicht nur Vandalismus gegen christliche Stätten erleben, sondern eine staatlich geförderte Politik, um jeden Beweis armenisch-christlicher Präsenz zu tilgen. Vieles hängt davon ab, ob die russischen Friedenstruppen bereit sind, den Schutz der armenischen Christen zu garantieren.