Polen wird zum Menetekel einer möglichen Zäsur. Als Bastion katholischer und konservativer Kräfte gerät das Land in den Sog eines linksliberalen Strudels, wie ihn sich die Regierung in Berlin nicht sehnlicher wünschen könnte. Die Missbrauchsskandale vor Ort zwingen die Kirche in eine solche Krise, dass katholische Medienanstalten in Deutschland sich bestärkt darin fühlen, öffentliche Angriffe gegen Johannes Paul II. zu reiten. Indes führt ein Präsidentschaftskandidat mit katholischem Etikett eine linkspuritanische Partei ins Weiße Haus. Nach Kennedy könnte er der zweite katholische Präsident sein, aber offensichtlich einer, den andere Katholiken nicht als solchen wahrnehmen. Die Mehrheit der US-Katholiken hat für Donald Trump gestimmt. Joe Biden war der Präsident der säkularen Wähler. Präsidenten der Demokraten sind üblicherweise dafür bekannt, nach der Wahl abtreibungsfreundliche Institutionen zu fördern. Die Neorenaissance der Linksradikalen flankierten Bilderstürmer und Anarchisten bereits im Sommer.
Derweil meldet sich die islamische Nemesis in Nizza und anderswo zurück. Zwar hatte der Nizzaer Bürgermeister Christian Estrosi hellsichtig erkannt, dass es sich dabei um einen Anschlag auf die Christenheit als solche handelte, doch Stimmen wie die seine gingen angesichts der laizistischen Staatsidee unter. Ein Rezept hat Europa gegen seine älteste Herausforderung ebenso wenig wie 2004 oder 2015. Nicht die Stärke des Islam, sondern die Ohnmacht Europas erlaubt es, dass dieses auf importierten Tribalismus, demographische Herausforderungen und eine unbekannt gewordene rohe Gewalt keine Antwort weiß. Der Traum, durch wirtschaftliche Akkulturierung und Demokratisierung zu integrieren, hat sich bisher als Wunschdenken erwiesen.
Dabei liegt die wahre Bedrohung des Abendlandes im Fernen Osten. Nicht allein Chinas wirtschaftliche und politische Kraft erscheint bedrohlich. Die Südeuropäer fürchten den Aufkauf ihrer maroden Firmen; die Bedrohungslage ist dort weitaus deutlicher als im Norden, wo man glücklich auf den Umsatz im Außenhandel verweist. Doch die wahre Herausforderung ist eine zivilisatorische: Das chinesische Reich hat eine zweitausendjährige Erfahrung. Die Elite hat den traditionellen Konfuzianismus mit seinem Ordnungs- und Harmoniedenken der neuen Zeit angepasst. Die staatskapitalistische Chimäre ist nicht nur für die europäische Wirtschaft ein Problem, sondern erweist sich immun gegen Demokratisierungsbemühungen. Der gelbe Imperialismus hat Afrika wie Südamerika erfasst und schielt auf einen Kontinent, der sich von Freunden umzingelt glaubt. Man behandelte das wiederauferstandene Reich wie ein Entwicklungsland, allerdings eines, das erst letzte Woche Australien ein 14-Punkte-Ultimatum ausstellte, nachdem es mit der RECP nur wenige Tage zuvor die größte Freihandelszone der Welt mit aus der Taufe gehoben hatte.
Während der „äußere Feind“ eine historische Konstante in der Begründung von Staaten und Staatengemeinschaften bildet, reagierte die Europäische Union nicht nur phlegmatisch, sondern geradezu unhistorisch. Die Erpressung Griechenlands durch die Türkei hätte ein klassisches Narrativ geboten: Die Türken wollten den ältesten Vorposten europäischer Kultur mit der Grenzöffnung erdrücken und Europa seine Regeln aufoktroyieren. Die klassische res publica christiana des Mittelalters und der Frühen Neuzeit hätte sich in solchen Situationen zu einer Liga zusammengefunden. Doch noch im Spätsommer, als Griechenland und Zypern neuerlich mit der Türkei aneinandergeraten und das christliche Armenien Opfer eines türkisch-aserbaidschanischen Komplotts wird schweigen die Europäer. Ganz vorne die Deutschen, denen ihre Verbundenheit mit Erdogan wichtiger ist, als das Signal gemeinsamer Sanktionen gegen den historischen, ideologischen wie zivilisatorischen Gegner am Bosporus.
Darin zeigt sich der mythische Mangel der Union. So sehr sie die Einheit des Kontinents beansprucht, so wenig kann sie diese vollenden, wenn sie sich nur als Erbin von Aufklärung und Französischer Revolution versteht, und damit ein rein jakobinisches Projekt bleibt, das sich an höheren menschlichen Werten orientiert, aber nicht an den Geboten und Überzeugungen transzendenter Herkunft. Sie kann damit a priori nicht den Kontrast zwischen Westen und Osten, zwischen progressiven Linksliberalen und traditionellen Konservativen überbrücken. Sie kennt keine Gegner und sie kennt keine Freunde, weil aus aufgeklärt-universeller Sicht kein Unterschied zwischen den Ländern besteht. Sie tappt mit hehren moralischen Ansprüchen voller Weltgeltung dem chinesischen Drachen entgegen, dessen Menschenrechtsverletzungen sie zwar geißelt, aber auf dessen zivilisatorische Herausforderung sie keine Antwort weiß. Letzteres ist ihr schon deswegen unmöglich, weil sie keinen zivilisatorischen Kontrast, der über die Plattitüde „unserer Werte“ hinausgeht, erkennen will.