Eine Trauergemeinde marschierte. In einem Städtchen Montenegros, dessen grauer Stein sich an die Ufer der Bucht von Cattaro schmiegte, erklang die Totenglocke eines Campanile. Die Einwohner trugen ihre vornehmsten Gewänder. Marineoffiziere und Gardisten begleiteten den Leichenzug. Sie zogen durch die Straßen, in denen an diesem Tag kein Lachen, kein Weinen, keine Stimme erklang. Der Capitano Viscovich führte sie an, trug seine Paradeuniform.
Wieder schallte die Totenglocke. In der Sonne blitzte der goldene Löwe mit den Flügeln. Sechs Männer, an jeder Seite drei, hatten ihn ausgebreitet. Sie bildeten das Zentrum dieser Messe. Unter dem letzten Dröhnen der Glocken von Perasto betraten sie die Kirche. Viscovich schaute hinauf zum Campanile, wo die Glocke zurückschwenkte. Ein Campanile, der an das venezianische Original auf dem Markusplatz erinnerte.
Venedig lag hunderte Meilen entfernt. Besetzt von den Franzosen Napoleons, die den Dogen zur Abdankung gezwungen hatten. Die das Ende der Republik verkündet, und das Goldene Buch mit den großen Familien verbrannt hatten. Die rote Fahne mit dem goldenen Löwen hatte man zerrissen. Das Arsenal geschlossen, die Schiffe darin zerstört. Das Prachtschiff des Dogen zertrümmert, um das Blattgold zu gewinnen. Bilder hatten die Revolutionäre geraubt, sogar Deckengemälde aus dem Dogenpalast schlagen lassen.
Venedig war gefallen. Aber nicht San Marco. San Marco, der Heilige, der einigen unbeugsamen Lagunenbewohnern erst ihre Identität gegeben hatte. Ein Lagunenvolk ohne Namen hatte er groß gemacht. Eintausend Jahre lang. Dort, wo die Fahne des Löwen wehte, da war San Marco, da war Venedig lebendig. Deshalb verbrannten die Franzosen alles, was an ihn erinnerte. Sie schlugen die Löwen aus dem Marmor, sie zerrissen die Fahnen, sie zerbeulten die Schiffe, auf denen er prangte.
Und Giuseppe Viscovich wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis die Truppen auch seine kleine Stadt erreichten. Seine Spione berichteten davon. Die Kroaten in Zara hatten Widerstand geleistet. In Sebenico hatte man den neuen Gouverneur ermordet. An der dalmatinischen Küste wollte man nicht von San Marco lassen – weshalb man die Bewohner erniedrigte und umso härter bestrafte.
Aber diesen Triumph wollte Viscovich den Revolutionären nicht gönnen, die das heilige Markusbanner in Stoff zerteilten, diesen verkauften und stattdessen die gottlose Trikolore hissten, die von Menschenrechten sprach und Menschenleben forderte.
Es klangen die Chöre und riefen zur Messe. Die Schiavoni, die slawischen Elitekämpfer der Republik, zogen ihre breiten Schwerter und salutierten der Fahne. Von draußen tönte die venezianische Artillerie ein letztes Mal. Es neigten die Stadtoberen die Häupter, und die Frauen holten ihre Söhne und Töchter, die das rote Tuch gen Altar trugen. Perasto war eine der geliebten Töchter Venedigs: weitab gelegen im Land der Dalmatiner, wo man den venezianischen Zungenschlag nicht kannte. Und doch waren die Menschen dem Gonfalon, dem Banner der Republik, so treu ergeben wie die Fischer von Malamocco oder die Salzsieder bei Chioggia.
Ein Venezianer war ein Venezianer, wenn er San Marco ehrte. Mit San Marco hatte es begonnen, mit San Marco würde es enden. Venedig kannte keinen König, und der Doge war nur ein Stellvertreter des Evangelisten. Venedig war keine gottlose Republik. Es war die Republik eines Heiligen. Die Republik eines geflügelten Löwen. Eines mythischen Tieres aus den Urzeiten des Christentums, das in San Marco und durch San Marco Fleisch geworden war. Ein himmlisches Tier Gottes, das den Cherubim Gesellschaft leistete, und den Thron Gottes stützte.
Was waren die drei Farben der Trikolore gegen dieses Symbol des Christentums selbst?
Zuletzt machte der Zug vor dem Altar Halt. Der Capitano stellte sich an den Gonfalon. Perasto hatte als Tochter von San Marco dieses Banner erhalten. Vor 377 Jahren, da die kleine Stadt Venedig Hilfe gesandt, und die Perastiner auf ihren Schiffen herbeisegelten. Auch in der Schlacht von Lepanto hatten die Perastiner furchtbarste Verluste auf sich genommen, um der Serenissima im Kampf gegen die Türken beizustehen. Die Perastiner liebten die Republik, sie liebten Venedig und sie liebten San Marco nicht weniger als alle anderen venezianischen Patrioten.
Und Viscovich bewegte die Lippen, eingedenk dieses Tages, des 23. Augusts 1797, an dem man dieses Zeichen zu Grabe trug, wie einen Verwandten, wie einen Freund, wie einen Ehepartner, den man durch einen schrecklichen Schicksalsschlag verloren hatte, nachdem er einen ein Leben lang begleitet hatte.
»In diesem bitteren Moment, der auf unseren Herzen lastet; in diesem letzten Ausbruch, diesem letzten Aufbäumen unserer Liebe, der unserer Serenissima und unserer Republik gilt; in diesem Akt, da wir den Gonfalon von San Marco zu Grabe tragen; soll dies, meine Freunde, kein tröstendes Ereignis sein – sondern eines der Pflicht und unserer Tapferkeit, nachdem wir ihn jahrhundertelang bewachten.
Europa soll wissen, dass Perasto bis zum letzten Moment Venedig die Treue gehalten hat. Es soll wissen, dass wir bis zum letzten Atemzug diese geliebten Gonfalon beschützten. Es soll wissen, dass wir ihn mit allen Ehren und unter Tränen von Schmerz und Liebe begruben. Erzählt es euren Kindern, damit eines Tages ganz Europa weiß, was sich heute hier zugetragen hat.
Und brüllen wir allen entgegen, wie wir und ganz Perasto im Dienste unserer geliebten Republik hofften, glaubten und liebten; wie wir mit dem Löwen an der Seite kämpften, wie wir scheiterten, wie wir siegten.
377 Jahre lang haben unsere Treue und unser Glauben Dein Banner geschützt; zu Lande und zu Wasser; gegen Rivalen und die Feinde der Christenheit.
377 Jahre lang haben wir alles, was wir besaßen, nur Dir gegeben, San Marco! Wir opferten unser Blut und unsere Leiber und unser Leben für Dich! Und wir taten es mit Liebe; mit Freude; mit Glück!
Du mit uns, wir mit Dir. Mit Dir waren wir auf dem Meer – stets glorreich, tapfer und erhaben! Niemand kann jemals behaupten, wir hätten mit Dir fliehen müssen! Niemand hatte Angst, wenn wir mit Dir an der Seite kämpften!
Und auch wenn wir Dich besiegt sehen, aus Italien verstoßen und von den Deinen entehrt, so gehören Dir immer noch unser Blut, unsere Seelen, unsere Liebe und unsere Treue. Da wir aber nichts weiter für Dich tun können, als dich ehrenvoll zu begraben, wollen wir es mit derselben Liebe tun, mit der wir Dich zuvor geehrt haben.
Deine Grabrede soll die größte und reinste sein. Deine Grabrede sollen unsere Tränen sein!
Du bist mit uns, und wir sind mit Dir, San Marco.«
Nu co Ti, Ti co nu, San Marco hauchte Viscovich zuletzt – wonach die Perastiner zum Gonfalon gingen, das Tuch küssten und beweinten, Frauen und Männer in Klagen und fassungslose Trauer ausbrachen. Niemals zuvor und niemals danach hatte ein Staat eine solche Grabeszeremonie erfahren; und San Marco selbst schien in diesen Minuten präsent, da die letzten Venezianer ihren Heiligen unter dem Altar begruben, um ihn vor den Händen derer zu schützen, die alles zerstörten, was ihnen so teuer war.
Und als die Perastiner den Gonfalon versteckten, kniete sich Viscovich zu seinem Neffen nieder, der die Zeremonie mit großen Augen beobachtete:
»Knie auch du nieder, und merk dir alles, was du gesehen hast, bis ans Ende deines Lebens.«
Der Junge ließ sich auf den Marmor fallen und sprach ein Gebet. An diesem Tag mochte die Republik, vielleicht Venedig sterben. Aber einen Heiligen konnte niemand töten.
Und als die Flügel des Löwen unter dem dalmatinischen Stein verschwanden, wusste der kleine Viscovich, dass er den Gonfalon womöglich nie wieder sehen würde – aber, dass solange die Liebe zu San Marco bestand und im Herzen eines letzten Venezianers brannte, die Hoffnung niemals erlöschen würde, bis der Löwe wieder brüllte und seine Flügel ausspannte.
Was eintausend Jahre formten, konnte keine Revolution ungeschehen machen.