„Die Corona-Krise schmiedet denkwürdige Lager. Wenn der Papst des deutschen Verbandskatholizismus und ein Berliner Propst, der die alte Messe feiert, auf demselben Standpunkt stehen, dann kann man das nur eine Querfront nennen. Der Chef des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Thomas Sternberg, vermisse den Gottesdienst „schon sehr“, sagte er gegenüber dem Deutschlandfunk. Unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen sollten Messbesuche wieder möglich sein. Er erklärte diese als „systemrelevant“, und zwar aus therapeutischen Zwecken: „Wo gibt es Orte, in denen man auch diese Ängste, die da aufgebrochen sind in der Corona-Krise, verarbeiten kann?“ Schulterschluss also mit dem aufmüpfigen Propst Gerald Goesche? „Das sind zum Teil Traditionalisten, das sind nicht die Leute, die sagen wir mal besonders die wesentliche Rolle in der katholischen Kirche spielen“, so Sternberg.
Denkwürdig auch, dass es dennoch dieser Propst mit seiner unwesentlichen Rolle war, der voranging, als sich andere zurückhielten. Selbst die Wortwahl Goesches hat die Runde gemacht. Kaum ein Politiker, Journalist oder Kirchenvertreter, der sich nicht seines Vergleichs bedient. Das gilt für die AfD bis Jakob Augstein, von Philipp Amthor bis zur BILD-Zeitung: fast jeder verwendet mittlerweile die Formel, warum Baumärkte offen haben, Kirchen aber nicht. Die Goeschefrage droht die Gretchenfrage abzulösen. Das Bundesverfassungsgericht hat nach Goesches Klage nicht eingegriffen. Aber Karlsruhe hat bestätigt, was vorher nur wenige auszusprechen wagten: dass es sich bei dem Gottesdienstverbot um einen „schwerwiegenden Eingriff“ in das Grundrecht auf Religionsausübung handelt. Da traute sich auch Heribert Prantl, das Schwergewicht der Süddeutschen Zeitung, aus der Deckung: „Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie gelten, weil sie auch in katastrophalen Fällen gelten müssen.“ Prantl, sonst nie um seine Meinung verlegen, habe auf Karlsruhe und die Kirchen gewartet, und sich deswegen zurückgehalten.
Eine dritte Denkwürdigkeit bildet der Zeitpunkt des plötzlichen Erwachens aus der coronalen Frühjahrsmüdigkeit. Dabei hat sich kaum etwas an der Bestandslage vor Ostern geändert. Die Kirche unterhält kein eigenes Institut, das mit neuen Ergebnissen zum Corona-Virus aufwarten kann. Erst nachdem ein Propst vor Gericht zieht und formell scheitert, wagen es Kirchenfürsten und Topjournalisten, aus der Deckung zu kommen. Die Frage danach, wie ehrlich das ist, angesichts vorösterlicher Festlegungen auf Abstinenz, bleibt unbeantwortet. Befremdlich auch, dass Politiker und Prälaten eine Mördergrube aus ihrem Herzen machten, statt den Vorsteher des Instituts Sankt Philipp Neri zu unterstützen, wenn dieser doch für ihr Anliegen eintrat; stattdessen distanzierte sich die Bischofskonferenz ausdrücklich von dem Alleingang.“