Sie mögen sich vielleicht fragen, weshalb der Löwe eine derartige Faszination für das Coronavirus aufbringt, das sich COVID-19 nennt. Sehen Sie, wir hatten viele verschiedene Wellen und seit SARS mit den jeweiligen Epidemien auch eine ganz besondere Medienaufmerksamkeit. Ich bin Laie auf dem Feld der Medizin bzw. Virologie. Ich maße mir nicht an, die Gefährlichkeit dieser Krankheit einordnen zu wollen.
Aber ich bin Historiker, dazu einer, der sich in der Frühen Neuzeit zuhause fühlt. Seit der Spanischen Grippe fürchtet die Menschheit die Wiederkehr einer Seuche, wie sie die Menschheit nur einmal jedes Jahrhundert erlebt. Die Globalisierung und die seitdem gewachsene Weltbevölkerung tun ihr Übriges. Panikmacherei ist mir ebenso fremd wie Verharmlosung. Wie ich andeutete: dieses Virus weckt Erinnerungen. Alte, vergrabene Erinnerungen.
Als gebürtiger Lombarde und kultureller Venezianer liegt das doppelt im Magen. Venedig war der Hafen, in welchem die Pest oftmals an Land ging. Die Kirche Santa Maria della Salute erinnert daran. Manzoni hat mit Mailand als Pestherd Literaturgeschichte geschrieben, spielen doch vor diesem Hintergrund die „Promessi sposi“. Boccaccios Dekameron entsteht in einer Gesellschaft von jungen Leuten, die vor der Pest aus Florenz fliehen und sich gegenseitig Geschichten erzählen.
Der unheimliche Ton gruselt. Meine Familie lebt jetzt in der „gelben Zone“, zu der die Lombardei und Venetien deklariert wurden. Sie sind nicht blockiert und isoliert wie die Italiener in der „roten Zone“ mit ihrem Zentrum Codogno. Aber der Alltag ist kollabiert. Mein Vater hat noch am Samstag unbeschwert gefeiert. Am Sonntag war die Welt eine andere. Meine Tante, die sonst auf jeder Beerdigung dabei ist, erzählt, dass am Montag nur der Priester und die engsten Angehörigen den Sarg bis zum Friedhof begleiteten, statt der üblichen Trauermärsche im Dorf.
Die Polizei sperrt die Bar im Dorf ab 18 Uhr ab, die Carabinieri drohen sonst mit Strafen und Festnahme. Die Schulen sind geschlossen, die Sporteinrichtungen, die Behörden. Selbst die Messen sind abgesagt worden. Meine nächsten Verwandten zählen alle zur Risikogruppe. Obwohl nicht damit zu rechnen ist, dass eine baldige Isolierung droht, so haben die Bewohner bereits am Sonntagmorgen – Italien kennt den durchgängigen geschäftsoffenen Sonntag – die Läden gestürmt und gehamstert. Das große Einkaufszentrum im Nachbarort, so sagt meine Tante am Telefon, soll leergeräumt sein. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Mundschutz und Desinfektionsmittel längst vergriffen sind. Es herrscht ein Gefühl der Anspannung, niemand weiß, was bevorsteht.
Das hat Auswirkungen. Ich gestehe: vermutlich würde mich ein Ausbruch im nächsten Umkreis weniger interessieren als dort unten. Selbst das kleine Örtchen Vo‘ in Venetien, das relativ weit von meinem Geburtsort liegt, und neben der roten Zone von Codogno unter Quarantäne steht, kenne ich aus nächster Anschauung. Es liegt am Fuß der Euganeischen Hügel, es ist jenes limettengrüne Land südlich von Vicenza, wo die Euganeischen Anekdoten ihren Ausgang nahmen. Es liegt mir alles sehr am Herzen. Es hat alles mit mir zu tun.
Für Konservative ist die Welt zerbrechlich. Ordnung ist keine Garantie. Und es ist um so vieles einfacher, etwas zu zerstören, als etwas aufzubauen. Wir sehen, wie fragil unsere Umgebung wirklich ist. 2015 konnten die Medien weglachen, weil man 2015 interpretieren und einordnen konnte. Leute können „entlarvt“, andere Meinungen denunziert, Ereignisse umgedeutet, skandalisiert, verschwiegen werden. Das nicht. Dieses Virus ist einfach da. Selbst die chinesische Staatspropaganda konnte die Exzesse in Wuhan nicht verheimlichen. Es zeigt, was ist. Ein Virus kann man nicht uminterpretieren und verklären. Es ist pures Sein – entgegen der Theorie, wie etwas zu sein hat. Im Grunde ist es damit rechtsextrem.
Ich wiederhole: ich habe keine Absichten. Ich berichte nur. Denn man sagt mir oft etwas von jährlichen Grippetoten. Aber ganz abgesehen davon, dass es Grippeimpfstoff gibt, so kann ich mich an keine historische Grippe entsinnen, bei der 53.000 Italiener von der Außenwelt abgekapselt wurden und das öffentliche Leben innerhalb eines Wochenendes zusammenbrach. Die staatlichen Maßnahmen zerstören die Normalität mehr als das Virus selbst. Die wirtschaftlichen Zusammenhänge habe ich genügend erläutert.
Was hier stattfindet, das ist etwas, das wir Europäer seit Aufklärung und Industrialisierung immer schön ausgelagert haben. Nämlich den Gedanken an Gefahr, an Tod, an Kontrollverlust. Wir leben auf einem alten Kontinent, der solchen Herausforderungen seelisch gar nicht mehr gewachsen ist. Die Probleme, die wir seit Jahrzehnten vor uns herschieben, könnten uns jetzt auf die Füße fallen. Weil wir immer davon ausgegangen sind, dass es stets aufwärts, aber nie abwärts geht. So ein Virus holt einen auf den Boden der Tatsachen zurück. Vielleicht ist das nicht das Schlechteste.