„Seit dem Wahlsieg des britischen Premierministers Boris Johnson raschelt es im Blätterwald konservativer Theoretiker. Vielfach lautet die Analyse: mit Johnson beginnt die Renaissance des „sozialkonservativen“ Gedankens, der sich von der Marktfreundlichkeit Margaret Thatchers und Ronald Reagans verabschiedet, und sich wieder stärker einer reformierten Version der „Noblesse oblige“ zuwendet. Zu ihnen zählt auch der Historiker Niall Ferguson. „In Britannien wird man das als Sieg für Johnsons Version des «One Nation Toryism» (Eine geeinte Nation unter den Tories) ansehen“, schreibt Ferguson in der Sunday Times, deren deutsche Übersetzung in der Neuen Züricher Zeitung erschien. Johnson werde weniger als Nachfolger Winston Churchills, denn als Wiedergänger von Benjamin Disraeli in die Geschichte eingehen. In Disraelis Amtszeit fielen Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Erleichterungen für den sozialen Wohnungsbau.
Ferguson, der für seine originellen wie umstrittenen Thesen bekannt ist, geht aber noch einen Schritt weiter. Johnsons Sieg sei zugleich der „Triumph von etwas Neuem“ gewesen, nämlich der eines „nationalen Konservatismus“. Ferguson bezieht sich damit direkt auf den israelischen Gelehrten Yoram Hazony und dessen Buch „The Virtue of Nationalism“. Das Buch, das 2019 den Paolucci Buchpreis gewann („Conservative Book of the Year“) stelle Johnsons Wahl in eine „weltgeschichtliche Perspektive“. Der Schotte zitiert seinen israelischen Kollegen direkt: „Der Nationalismus ist ein prinzipientreuer Standpunkt, der die Welt am besten regiert sieht, wenn Nationen imstande sind, ihren eigenen unabhängigen Kurs zu bestimmen, ihre eigenen Traditionen zu pflegen und ihre eigenen Interessen ohne Einmischung zu verfolgen. Das steht im Gegensatz zum Imperialismus, der danach strebt, der Welt Frieden und Wohlstand zu bringen, indem er die Menschheit so weit wie möglich unter einer politischen Herrschaft vereint.“
Hazony entreißt den Nationalismusbegriff damit jenem Kerker von Expansionismus, Militarismus und Chauvinismus, in den ihn seine Gegner üblicherweise einsperren. Das erscheint gewöhnungsbedürftig, hat aber seine historischen Entsprechungen im Isolationismus der USA vor dem Zweiten Weltkrieg und der „splendid isolation“ des britischen Empire.“