Die Berichte über Vorträge in der Bibliothek des Konservatimus ist hier leider stark zurückgegangen. Den letzten Besuch im Haus – David Engels war zu Gast – habe ich leider nicht zu Papier bringen können. Eine Besprechung zum Sammelband „Renovatio Europae“ wird unabhängig davon noch folgen.
Letzte Woche war es dann Alexander Kissler, der seine „Widerworte“ zum ansteigenden Phrasengesang im politmedialen Milieu vorstellte. Es war das erste Mal, dass ich Kissler „live“ erlebte, und war zuerst überrascht: die Fotospielerei mit dem verkniffenen Gesicht, die ironisch gebrochene Starrheit der Haltung – alles Koketterie. Kissler ist ein ausgesprochen sanguinischer Charakter. Rheinpfälzisches Gemüt im preußischen Berlin tut wohl, besonders wenn man in letzterer Stadt im Exil weilt.
Phrasen sind – so Kissler – Aussagen, gegen die man im Grunde „nichts haben kann“. Sie heischen nach der Mehrheit, sie ersticken durch ihre Trivialität die Originalität, sie versperren das eigentliche Denken. Wohl deswegen tummelten sie sich besonders in der Politik.
Die Königin der letzten Jahre dürfte Merkels „Wir schaffen das“ sein. Aber auch daneben finden sich unzählige kleine Gedankenersticker wie „Wir müssen zur Sacharbeit zurückkehren“, um Diskussionen über Köpfe und Personen zu beenden – wo es doch deren schlechte Arbeit war, welche die Debatte erst ins Rollen brachte. Ebenso ließe sich fragen, wie viele Prioritäten es eigentlich gibt, wenn ein Thema wiederholt als „Oberste Priorität auf der Tagesordnung“ gefordert wird.
Bleibenden Eindruck hinterließ jedoch der Diskurs über den „Respekt“ in unserer Gesellschaft. Der Chef des Cicero-Feuilletons Salon wies darauf hin, dass immer mehr „Respekt für“ andere Sexualitäten, Kulturen, Religionen und weitere Minoritäten eingefordert würdn, ja, man rufe allenthalben zu einem „respektvollen Umgang miteinander“ auf. Eine Vielzahl von Organisationen führten den Begriff in ihrem Namen (zumeist mit Ausrufezeichen: „Respekt!“).
Kissler rügte den politischen Appell schon deswegen, weil man keinen „Respekt für“ sondern einen „Respekt vor“ etwas hat. Überspitzt gesagt: eine Anspruchshaltung der Moderne, ein „Recht auf Respekt“ hat den Begriff völlig verwässert. Noch Immanuel Kant hätte zum Ende des 18. Jahrhunderts dem Respekt eine „furchteinflößende“ Komponente gegeben. Respekt schuldete man höheren Autoritäten, und in der höchsten Instanz Gott. Auch im 19. Jahrhundert hätte niemand es verstanden, wenn heutige Aktivisten fordern: „jedermann verdient Respekt!“. Respekt musste man sich – damals wie heute – verdienen. Selbst der Bundeszentrale für Politische Bildung ist der Unterschied zwischen unveräußerlicher Menschenwürde und Respekt nicht mehr bekannt. Wenn es aber nun Applaus ohne Leistung gebe, könne dies nur eines bedeuten: im Grunde ist den Leuten, welche die Phrase aussprechen, alles egal.
Unausgesprochen, aber durch den Hinweis angedeutet: die Aufweichung des Respekt-Begriffs von furchteinflößender Autorität, über den Leistungsgedanken des 19. Jahrhunderts und 20. Jahrhunderts hin zur reinen Egalität (im doppelten Sinne) im 21. Jahrhundert ist wohl alles andere als ein Zufall.
Weitergedacht: Sie ist womöglich sogar der zwingende Schluss in einer westlichen Gesellschaft, die zuerst Gott, dann den Monarchen, und zuletzt sogar den meritokratischen Gedanken verloren hat. Ein System von Hierarchien hat eine genaue Konnotation des Respektbegriffes nötig: er ist ungleichmäßig verteilt. Mit dem Tod Gottes fällt zugleich die höchste Respektkategorie, die einen transzendenten Inhalt in sich trägt: Respekt ist nunmehr nicht mehr heilig und auch nicht furchteinflößend, man verliert die „Ehrfurcht“. Eine bürgerliche Gesellschaft achtet seine höchsten Vertreter aufgrund ihrer Leistung. Die letzte Form der Demokratie, in der nur noch die reine Gleichheit gilt, Relativismen und Agnostizismen das Leben beherrschen, muss selbst den Respekt relativieren, bis er gleichsam einklagbar wird: er ist plötzlich allen Menschen inhärent, weil alles andere eine Diskriminierung ist. Die Grenzenlosigkeit der Moderne macht eben auch vor der Sprache keinen Halt.