Die Renaissance gilt als Beginn einer neuen Zeitrechnung: mag es des Buchdrucks, der Reformation, der Eroberung Konstantinopels oder der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus sein. Die Zäsur soll hier nicht das Thema sein; und ebenso wenig möchte ich lange Gedanken über all jene verlieren, die das Gegenteil behaupten, nämlich, dass es nie eine „Neue Zeit“ gegeben hätte, die Renaissance größtenteils Propaganda ihrer Vertreter war und im Grunde die alte Geschichte ohne Probleme bis zur Französischen Revolution weiterlief.
Der Zwittercharakter der Renaissance als erster Erscheinung der Frühen Neuzeit liegt auch darin, dass sie einerseits noch viele positive Eigenschaften des Mittelalters enthält, und die Saat der Moderne nur langsam reift. Das heißt: es ist noch gar nicht klar, ob es eine Reformation, einen Dreißigjährigen Krieg oder eine Aufklärung geben wird. Weichen werden gestellt, aber sie sind noch nicht festgelegt. Die Italienischen Kriege ab 1494 sind 1490 noch vermeidbar (inklusive all ihrer Konsequenzen); die Erbfolge der Habsburger samt ihres Aufstiegs zur Weltmacht ist ein ebenso ferner Gedanke wie der Verlust des venezianischen Gewürzhandels.
Der Geist der Renaissance ist bereits ein eigener. Aber er ringt mit dem Mittelalter ebenso wie den aufkommenden Gefahren. Ein Humanist wie Erasmus liegt im Konflikt mit der Römischen Kirche, aber sagt sich von ihr nicht los; er kritisiert die Mängel, aber er stellt sich auch gegen die Radikalität Luthers. Solche Erscheinungen sind typisch für ein dynamisches Zeitalter, das uns so fremd und doch so vertraut erscheint.
Wenn anfangs von „Zeitrechnung“ die Rede war, dann liegt ein Thema sehr nah: nämlich die „Zeitrechnung“ selbst. Das Mittelalter lebt in der Großzügigkeit von Stunden. Die Moderne teilt die Welt mathematisch und punktgenau ein. Wir treffen uns nicht mehr „um 3“, weil der Uhrenturm nur einen Stundenzeiger hat, oder weil wir uns grob am Sonnenstand orientieren. Die Renaissance ist der Übergang vom mittelalterlichen Wohlgefühl zeitlicher Breite hin zum stundengetakteten Menschen. Der Schichtarbeiter der Industrialisierung ist ohne den Uhrmacher aus dem Nürnberg der Renaissance eben nicht denkbar. Die Revolution: Zeit bekommt nicht nur einen Minutenzeiger – sie wird auch tragbar.
Zeit ist ab der Renaissance nicht mehr organisch, sie wird mechanisch. Es ist jenes technische Korsett, das sich in den Jahrhunderten immer enger schnürt. Zeitdruck und Stress sind dem mittelalterlichen Bauern unbekannt; er lebt nach Saat und Ernte, den Kampf gegen die Zeit kennt er nur, wenn es das Korn einzuholen gilt um es vor Unwetter zu schützen. Er lebt mit den Jahreszeiten, wie er mit der Zeit lebt; das mag manchmal schön, manchmal brutal sein, aber er lebt nicht „gegen“ die Zeit wie der moderne Mensch. Erst die Minutenuhr – bzw. die Taschenuhr – ermöglicht punktgenaue Termine, Treffen und Modernität. Taschenuhr und Minutenzeiger sind zugleich Symbol der Modernisierung, Globalisierung und Mechanisierung.
Es bleibt dabei die Frage, ob diese Technik nicht zugleich den Menschen hin zur Entfremdung von seiner eigentlichen Lebenswelt zieht; hin in ein Gefängnis von Unfreiheit und Sklaverei. Der mittelalterliche Bauer kannte nur Zeiten, keine Schichten; der Handwerker fertigte einen Schuh in einem Intervall, das er selbst vorgab; und die Adligen reisten mit ihrem Kaiser oder kamen zum Reichstag, wie er eben angesetzt wurde. Abhängigkeit von neuen Technologien ist keine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Die Uhr ist eines der ältesten Beispiele dafür, wie der Mensch plötzlich Teil eines Mechanismus wird. Es bleibt die Frage, ob er wirklich Herr der Zeit geworden ist – oder dieses Instrument ihn versklavt hat. So wie heute so manches Smartphone.
Womit sich die zwingende (spätmittelalterliche) Frage stellt, ob die Taschenuhr nicht doch vielleicht eine Erfindung des Teufels ist, weil diese den Menschen aus seiner göttlichen Ordnung entfernt.