Salvini hat Ende letzter Woche Neuwahlen gefordert. Das ist eine optimale Situation: die Lega kratzt an den 40 Prozent, die Fratelli d’Italia liegen bei circa 7 Prozent. Aufgrund der Zersplitterung der Parteienlandschaft genügte das für ein Rechtsbündnis – auch ohne den Bremsklotz Berlusconi, der mittlerweile von den eigenen Leuten als Problem angesehen wird.
Der Regierung aus Lega und M5S hatten die meisten sowieso keine lange Überlebensdauer bescheinigt: 12 Monate war die beste Wette; persönlich ging ich davon aus, dass die Bombe nach der EU-Wahl platzt. Kurze Regierungsphasen und Kabinette sind übrigens nichts Besonderes in Italien. Selbst in einer Legislatur kann die Regierung häufig wechseln: die Vorgängerregierung unter Führung des sozialdemokratischen PD hat mit Letta, Renzi und Gentiloni drei Ministerpräsidenten in fünf Jahren verschlissen. Und diese Legislatur galt noch als „stabil“. Auf Personalien wie Andreotti, dem Urgestein der ehemaligen Christdemokraten, der achtmal Ministerpräsident mit wechselnden Koalitionen war, will ich hier gar nicht erst eingehen. Kurzlebigkeit hat in Italien rein gar nichts mit „Populismus“ zu tun; denn das italienische politische System ist auf Instabilität ausgelegt. Eine Alleinherrschaft wie beim Faschismus soll so um jeden Preis verhindert werden. Die Italiener haben also ganz andere Lehren aus ihrer Diktatur gezogen als die Deutschen. Ein Referendum, das Ende 2016 für „stabilere Verhältnisse“ deutscher Prägung sorgen sollte, wurde von den Italienern abgeschmettert. Alles nichts besonderes.
Zurück zur Ausgangssituation. Über Monate hat Salvini größtenteils seine Politiklinie durchgeboxt, weil die guten Umfrageergebnis der Lega das Messer im Rücken des parlamentarisch doppelt so starken M5S war. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik blieb dabei Streitfeld und ausgeklammert. Die Differenzen zwischen den Parteien waren zu groß. Die Lega ist an ihrer Basis immer eine Mittelstandspartei gewesen, vor allem für die kleinen und mittleren Unternehmer des Nordens. Dieses wirtschaftsliberale Profil drohte zugunsten des linken M5S-Kurses zu erodieren. Der Unmut an der Basis war groß. Salvini wusste daher, dass er den richtigen Zeitpunkt wählen musste, wo die Begeisterung für die Lega außerhalb des traditionellen Lagers möglichst groß war, bevor der Unmut an der Basis losbrach.
Die Crux ist daher auch nie die Sicherheitspolitik gewesen; vielmehr drohte der Bruch bei den Themen TAV (Schnellzug Lyon-Turin) und der „Flat-Tax“, welche weite Teile der Mitte entlasten soll. Wäre die Sache nicht beim TAV zerbrochen, dann bei der Flat-Tax. Der M5S hatte in der Vergangenheit sein Veto eingelegt. Und ohne Flat-Tax hätte Salvini ein Versprechen gebrochen, dass für viele Lega-Wähler mindestens so wichtig war wie die Migration. Salvini wusste das. Und er wusste, dass dann der Höhenflug der Lega mit einer Bruchlandung geendet hätte.
Die Lega musste demnach über kurz oder lang die Regierung verlassen, wenn sie sich selbst treu bleiben wollte, bzw. um ihr Image aufrecht zu erhalten. Sonst hätten sich einige Italiener noch an die Berlusconi-Jahre erinnert, in denen die Lega als Koalitionspartner bereits einmal die Interessen ihrer Wähler verkauft hatte. Die Erinnerung an den Einbruch bei den Parlamentswahlen sitzt bis heute tief. Salvini musste daher irgendwann die Reißleine ziehen, wollte er nicht zulassen, dass sich die Geschichte wiederholte.
Mit Sicherheit hat Salvini darauf spekuliert, dass PD und M5S ein Bündnis gegen ihn schmieden könnten. Doch der derzeitige Kindermissbrauchsskandal in der PD-geführten Emilia-Romagna hat ihn wohl dazu verleitet anzunehmen, dass der M5S davor zurückschrecken würde. Noch letzte Woche hatte M5S-Chef Di Maio verkündet, er könne sich kein Bündnis mit einer Partei vorstellen, die mit „Bibbiano“ assoziiert sei. Das muss für Salvini ein Signal gewesen sein, dass er mit Neuwahlen durchkommt.
Die Sache kam anders. Es sieht so aus, als bereiteten PD und M5S eine „technische“ Übergangsregierung vor, in der beide Parteien die Lega rauswerfen und die Posten unter sich aufteilen. Spekulationen gehen sogar dahin, dass auch Berlusconis Forza Italia mitmachen könnte, um sich ein Stück vom Kuchen zu ergattern. Bereits 2018 hatte die FI auf eine „Große Koalition“ nach deutschem Vorbild geschielt.
Morgen findet zuerst das Misstrauensvotum gegen Conte, dann das gegen Salvini statt. Es könnte danach zu einer informellen PD-M5S-Regierung kommen. Salvini-Gegner sollten sich aber nicht zu früh die Hände reiben.
Denn obwohl es so aussieht, als ob Salvini sich „verzockt hat“, so ist er nicht weg vom Fenster. Im Gegenteil. Nicht wenige Italiener wollen Neuwahlen, weil die parlamentarischen Mehrheiten nach einem Jahr nicht mehr dem Meinungsbild entsprechen. Salvini könnte in die kommode Position kommen, dass die Lega in die Opposition gezwungen wird, mit der Botschaft: die Parteien haben euch wieder verraten, sie haben Neuwahlen verhindert, um an der Macht zu bleiben; und der ach so reine M5S hat sich mit der Kaste ins Bett gelegt. Es ist nahezu unmöglich, dass irgendein Nachfolger Salvinis im Innenministerium den „Mythos Salvini“ zerstören kann. Es wird das Bild bleiben: der einzige Mann, der Italien retten kann, ist der Capitano. Könnt ihr euch noch an seine Amtszeit erinnern?
Deswegen: auch der PD ist nicht von allen guten Geistern verlassen. Auch dort rechnet man damit, dass der Mythos Salvini durch die Niederlage noch größer werden könnte. Deshalb könnten auch einige PDler der Meinung sein, das eine erneute Regierungsbeteiligung – nach nur einem Jahr Pause – schädlich sein könnte. Man leckt die Wunden, hat sich etwas vom Desaster 2018 erholt. Die Erosion des M5S bringt verprellte PD-Wähler zurück ins alte Lager. Der PD muss auf die Schwächung des M5S abzielen, nur dort kann er auf Stimmen hoffen. Eine Unterstützung des M5S konterkariert das Ziel, den Intimfeind einzuhegen, kleinzuhalten, und alte Wähleranteile zurückzuerobern. Kommt der PD dagegen jetzt in die Regierung, verlieren beide Parteien massiv in der Wählergunst. Einem Premier Salvini mit absoluter Mehrheit steht dann in drei Jahren nichts mehr im Weg. Es gibt dann nur noch ihn.
Quintessenz: Egal was morgen passiert, Salvini wird Italiens Premier. Entweder in drei Monaten, oder in drei Jahren. Das langfristige Szenario könnte ihn sogar mächtiger machen als das kurzfristige.