Zum dritten Mal in Folge erleidet die Regierungschefin dieses Landes einen Zitteranfall, der für reichlich Gesprächsstoff sorgt. Bereits beim zweiten Mal war die Ausrede, es handelte sich um Dehydrierung, angesichts der wohltemperierten Räumlichkeiten von Bellevue wenig überzeugend. Dass die Debatte abgelehnt wird, weil eine Diskussion über die Gesundheit als inakzeptabel angesehen wird, spricht eine deutliche Sprache. In der Tat: sich despektierlich über den Zustand einer Frau auszulassen, deren Nachteulenstunden legendär sind, steht gewiss auf einem anderen Blatt. Das das darf aber nicht die Diskussion darüber abwürgen.
Die Gesundheit eines leitenden Staatsmannes war in der Geschichte nämlich nie Privatsache. Das Königsheil des Mittelalters war eng mit dem Zustand des Reiches verknüpft. Unter einem schlechten oder einem kranken Fürsten litt das Land, faulten die Äpfel an den Bäumen, trocknete das Gras aus. Dass der Ruf „Heil“ in der Wurzel ein Gesundheitssegen ist, spricht für die Überzeugung, dass nichts wichtiger ist als die Konstitution des Monarchen. Die lateinische und italienische Version „Salve“ drückt Ähnliches aus. Für einen kranken König muss gebetet werden. Da die Krankheit im alten Europa oft den Tod einläutete, war es oftmals die letzte Chance, die Regierung für das kommende Ableben zu ordnen und den Erben auf seine Aufgabe vorzubereiten.
Diskussionen um das Monarchenwohl waren daher immer Gesprächsthema und Gerüchteküche. Daran hat sich wenig geändert. Denn Staatsoberhäupter wollen keinen Kontrollverlust andeuten. Man muss nicht ein viriler Haudrauf wie Theodore Roosevelt oder Wladimir Putin sein, aber es ist offensichtlich, was solche Bilder erzeugen müssen, erzeugen wollen. Smartness und Lässigkeit haben heute vielleicht die Parade abgelöst, aber sie erfüllen einen ähnlichen Zweck. Eine Krankheit passt da nie rein. Auch einem Matteo Salvini hat man bei seiner Wahlkundgebung vor der EU-Wahl angemerkt, dass er im Grunde gegen eine Erkältung ankämpfte.
Die Angst vor der Zurschaustellung der Krankheit hat archaische Wurzeln. Im Mittelalter begann die Zeit der Regenten, der Großen, der Ränkeschmiede, da die Wölfe Beute witterten. Ein krankes Oberhaupt konnte oft als Zustand des Staates selbst verstanden werden. Dass die Venezianer zur Zeit der Liga von Cambrai am Rande des Untergangs standen und zugleich mit Leonardo Loredan einen gebrechlichen Dogen hatten, der zu den Ratssitzungen getragen werden musste, deuteten viele als Omen.
Die Amerikaner legen bis heute großen Wert auf die Gesundheit ihres Präsidenten. Der Zusammenbruch Hillary Clintons im Wahlkampf dürfte der Sargnagel für ihre Präsidentenkarriere gewesen sein. Aus solchen Gründen hatten schon Amtsinhaber aus ihrer Gesundheit ein Geheimnis gemacht. Von Franklin D. Roosevelt existierten kaum Bilder in der Öffentlichkeit, die ihn im Rollstuhl zeigten – vielleicht, weil die Amerikaner eine ähnliche Demoralisierung wie ihre republikanischen Vettern in Venedig befürchteten. Und hätten die US-Bürger vor der Wahl John F. Kennedys gewusst, dass dieser abhängig von Medikamenten war und auf Krücken laufen musste – wahrscheinlich hätte Nixon schon damals an den Urnen gewonnen.
Es ist daher verständlich, dass Seibert und Konsorten, sowie die Kanzlerin selbst immer wieder betonen, alles sei in bester Ordnung. Sie stellen sich damit in eine gute Tradition. Die PR-Abteilung des Kanzleramtes sollte allerdings auch wissen, dass Gerüchte und Spekulationen tödlicher sein können als echte Krankheiten. Kranke Könige haben ihre Geschäfte delegiert. Merkel wird bis zum Ende keinen Zentimeter Macht aus der Hände geben. Insofern besteht nicht nur ein öffentliches Interesse am Gesundheitszustand Merkels – sondern auch eine Pflicht hinsichtlich staatspolitischer Klugheit. Niemand will ein Regierungsoberhaupt, das an seiner Arbeit zerbricht. Damals wie heute.