Der folgende Text erschien im April 2018 zuerst bei der Tagespost unter dem Titel „Orient begegnet Okzident“. Er ist eine Weiterentwicklung der hier vorgestellten Beiträge „Miszelle zum Wissensverkehr“ und „Medien als Verfechter des Islamischen Deutschlands“. Die hier vorgestellte Deutung ist mit Sicherheit kontrovers und entspricht einer Minderheitenmeinung in der Wissenschaft. Ich will sie dennoch aufführen, um den Meinungs- und Deutungskanal zu weiten, insbesondere was eine „schicksalsträchtige“ Verflechtung betrifft.
Die Frage nach dem christlichen Abendland und dem Beitrag der islamischen Welt ist in den letzten Tagen wieder lauter geworden. Im Zuge der Äußerung Horst Seehofers, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, schossen private wie öffentliche Medien im Dauerfeuer gegen den neuen Innenminister. Der Deutschlandfunk führte dabei im Stundentakt eine Liste von „Zeugen“ dafür auf, dass der Islam doch zu Deutschland gehöre, darunter den Mittelalterhistoriker Michael Borgolte, den die Rundfunkanstalt folgendermaßen wiedergab: „Deutschland als Teil des westlichen Europas hat dem Islam unschätzbares zu verdanken.“
Borgolte ist womöglich nicht der neutralste Zeuge. In Berlin ist er nicht nur am islamischen Theologieinstitut der Berliner Humbold-Universität beteiligt, sondern steht an dessen Spitze. Verständlich, dass man in dieser Position das politisch korrekte Historikerdogma wiederholen muss, die Muslime hätten im finsteren Mittelalter ein Licht ins Abendland gebracht. Der Kirchenhistoriker Michael Hesemann postulierte hingegen das genaue Gegenteil: „Der Islam spielt in der 1700jährigen Geschichte des christlichen Abendlandes immer nur eine Rolle: Die des Damoklesschwertes, das über uns hing, der Bedrohung durch die Barbarei, gegen die es sich zu vereinigen und derer es sich zu erwehren galt.“
Bezeichnend, dass der Deutschlandfunk Borgolte als Kronzeugen heranzog, der islamkritische Kommentar dagegen von Facebook gelöscht und Hesemann für 30 Tage von der Plattform ausgeschlossen wurde. Es scheint in der Öffentlichkeit nur eine historische Wahrheit über den Islam geben zu dürfen, und das ist die Merkel’sche Direktive, die vorher schon Christian Wulff in seiner glücklosen Präsidentschaft erteilt hatte. Der Eingriff politischen Handelns in die akademische Welt gibt zu denken; ebenso das Verhalten von Lehrstuhlinhabern, die eine historische Wahrheit eher propagieren als eine andere, weil sie so erwünscht ist.
Doch was ist diese historische Wahrheit, auf deren Fundament heute das Dogma steht, der Islam hätte Europa im Mittelalter bereichert? Während der Konflikt der Religionen offenkundig ist und mit der Geburtsstunde des islamischen Expansionismus beginnt – die ganze islamische Mittelmeerwelt ist im Grunde nichts weiter als erobertes christliches Territorium – hält die Gegenposition vor allem eine Episode dagegen. Das maurische Spanien gilt als Musterbeispiel multikulturellen Zusammenlebens, von Arabern, Berbern, Mozarabern; von Muslimen, Juden und Christen. Das Abendland hat viele seiner antiken Schriften verloren, doch die Muslime haben diese über Jahrhunderte konserviert und kommentiert. In Toledo kommen die Christen wieder mit dem verschollenen Aristoteles in Berührung – es beginnt eine kulturelle Blüte in Europa, die auf der Wiederentdeckung der Antike und der Rezeption antiker Werte beruht. Ohne Aristoteles ist kein Thomas von Aquin und ohne ihn keine Scholastik denkbar.
Der Islam wird somit zum integralen Bestandteil europäischer Geistesgeschichte. Die Darstellung krankt aber an einigen historischen Fakten, die bereits der Pariser Religionsphilosoph und Mittelalterhistoriker Rémi Brague dagegen anführte: „Spricht man vom Beitrag des Islam zur Entwicklung der abendländischen Kultur, wie es derzeit geschieht, muss man außerdem klarmachen, was man meint. Meint man die vom Islam geprägte Zivilisation, stimmt es. Meint man den Islam als Religionsgemeinschaft, war der Beitrag gleich null.“
Die Übersetzungstätigkeit vom Griechischen ins Arabische ging nicht von Muslimen, sondern von Christen und Juden aus. Bis auf den Philosophen Alberuni – so Brague weiter – sei kein Muslim bekannt, der zu Studienzwecken eine nichtislamische Sprache lernte. Weder der berühmte Arzt Avicenna, noch der ebenso berühmte Philosoph Averroes waren des Griechischen mächtig. Ein Punkt, den auch der Islamkritiker Hamed Abdel-Samad immer wieder aufgreift: dort, wo der Islam am schwächsten war, führte dies zu jenen kulturellen Blüten, die man ihm fälschlicherweise zuschreibt.
Zudem ist die Exlusivität der Schule von Toledo nicht gänzlich unumstritten. Neben dem maurischen Spanien bleibt Konstantinopel oft vergessen. Dort bestand die antike kaiserliche Bibliothek mindestens bis zum 4. Kreuzzug (1204) fort. Es erscheint fraglich, warum in all den Jahrhunderten des ökonomischen und kulturellen Austauschs mit dem europäischen Innovationszentrum Italien kein Venezianer oder Pisaner auf die Idee gekommen sein soll, sich in Byzanz nach alten Büchern umzuschauen.
Der Mittelalterprofessor Sylvain Gouguenheim erschütterte 2008 die Fachwelt, als er genau diese These aufgriff: das arabisch-islamische Denken sei gar nicht dazu geeignet gewesen, das abendländische Denken zu befördern. In seinem Buch „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ konzentrierte sich Gouguenheim auf die gleichnamige normannische Abtei. Bereits im frühen 12. Jahrhundert finden sich dort Aristoteles-Übersetzungen eines gewissen Jakob von Venedig. Der Hauptstrom der Übertragung des griechischen Erbes ins Abendland sei demnach nicht über den arabisch-muslimischen, sondern den byzantinisch-orthodoxen Weg erfolgt.
Gouguenheims Vorstoß wurde zuerst positiv von der französischen Presse begrüßt, so von „Le Monde“ und „Libération“. Was folgte, war die Reaktion der eigenen Kollegen, nicht nur aus französischen, sondern auch aus deutschen Reihen. Im deutschsprachigen Raum tat sich der Arabist Dag Nikolaus Hasse hervor, der Gouguenheims Arbeit ein „unseriös gearbeitetes und von Ideologie durchtränktes Buch“ nannte, dazu sei es das Manifest „eines kulturellen Rassismus“. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, die den „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ in Deutschland veröffentlichte, setzte ein deutliches Zeichen, indem sie dem Buch zwei Kommentare von erklärten Gouguenheim-Gegnern hinzufügte. Die Süddeutsche Zeitung nannte letzteres das „Skandalbuch“ eines „Mittelalter-Sarrazin“. Man fürchtete bereits damals Wasser auf den Mühlen rechter und nationalistischer Kreise. Der Vorwurf der Islamophobie machte die Runde.
Dabei war Gouguenheims These nicht völlig neu. Der Mediävist Jacques Heers hatte bereits Jahre zuvor festgestellt, dass der muslimisch-arabische Teil des Wissenstransfers bei weitem überschätzt würde, und überdies die Logik als eine der Sieben Freien Künste eine Tradition in den Domschulen besaß. Aus den Domschulen entwickelten sich bereits im 11. und 12. Jahrhundert die mittelalterlichen Universitäten, Jahre bevor der Philosoph Averroes einen angeblich prägenden Einfluss auf das Abendland ausüben konnte. Auch die Historikerlegende Jacques Le Goff merkte an, dass die Liste jener, die sich gegen Gouguenheims These stellten, nur „wenige wichtige Vertreter der Mittelaltergeschichte“ enthalte.
Tatsächlich enthält das Buch Fehler. Gouguenheim erklärte später, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass Mont Saint-Michel eine Übersetzungswerkstatt war. Es gibt auch keinen Beweis, dass Jakob von Venedig die Abtei besuchte; zudem wurden einige Arbeiten, die von seinem Übersetzerkollegen Burgundio von Pisa stammten, fälschlicherweise Jakob zugeordnet. Ansonsten richtete sich die Kritik darauf, dass Gouguenheim sich zu sehr auf Sekundärliteratur gestützt habe und kein Experte auf dem Feld der muslimischen Welt sei.
Trotz dieser heftigen Gegenreaktion fällt auf, dass der zentrale Punkt von Gouguenheims Werk bis heute nicht attackiert wurde: nämlich, dass es in einer großen europäischen Abtei bereits lange vor dem Wissenstransfer von Toledo Aristoteles-Übersetzungen existierten. Das Abendland hatte demnach Zugriff auf antike Schriften, ohne vom morgenländischen Wissen abhängig zu sein.
Über Jakob von Venedig bleiben viele Details unbekannt. Vermutlich wuchs er als Venezianer in Konstantinopel auf. Er übersetzte die Physica, Metaphysica und De anima des Aristoteles, Fragmente weiterer Schriften sind erhalten. Dass seine Werke den abendländischen Gelehrten bekannt waren, zeigt eine Erwähnung des Jakob von Venedig bei Johannes von Salisbury, der als einer der bedeutendsten englischen Theologen des 12. Jahrhunderts gilt. Der Abt von Mont Saint-Michel – Robert de Torigini – berichtet, dass Jakob die Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische in den Jahren 1128 und 1129 angefertigt habe. In seinem Umfeld hielt sich auch der Jurist Burgundio von Pisa auf, der als Botschafter seiner Heimatstadt in Konstantinopel mit griechischem Kulturgut in Berührung kam und Werke des Arztes Galen und des Kirchenlehrers Johannes Chrysostomos übersetzte.
Wenn auch die Details ungeklärt sind, so ist die Behauptung, der Islam hätte beim Wissenstransfer eine absolute Rolle gespielt, im Kern genauso falsch wie die populistischen Parolen aus Politik und Universität. Was das Beispiel aber besonders zeigt: es waren stets die Christen, die gezielt nach antiken Schriften suchten und keine passive Befruchtung durch Kontakt mit dem alten Griechentum. So musste das Abendland nicht erleuchtet werden, sondern gestaltete seine Zukunft im Zeitalter der aufstrebenden Handelsstädte und des aufblühenden Universitätswesen selbst. Eine irgendwie geartete Schicksalhaftigkeit ist darin nicht zu sehen – sondern eher das verantwortungsvolle Individuum, wie wir es aus dem christlichen Menschenbild kennen.