Guastalla

7. Februar 2019
Kategorie: Europa | Freiheit | Giovannino Guareschi | Hintergrund und Schreibarbeit | Historisches | Italianità und Deutschtum | Palatina | Philosophisches | Regionalismus

Small is beautiful – für die Einsicht braucht man nicht Schuhmacher heißen. Palatina, die fiktive Stadtrepublik irgendwo an der Grenze zwischen Toskana und Kirchenstaat ist Ausdruck meiner tiefsten Überzeugung, dass wir das Schöne und Große im Kleinen finden; dass wir nicht in die gewaltigen Metropolen gehen brauchen, um Kultur zu finden, dass Kunst immer einen Bezug zur Eigentümlichkeit braucht, die in der grauen Masse verschwindet. Die kosmopolitische Weltstadt hat unzählige Mohren zu bieten; aber in Venedig fällt mit Othello der eine Mohr mit seinem Schicksal auf. Es ist das Schicksal der Metropole, dass sie eben nicht die exotischsten Paradiesvögel beherbergt, sondern im Gegenteil durch das Anlegen eines Tiergartens nicht müde wird, ihre Legionen von Paradiesvögeln als bunte Einzigartigkeit auszustellen. Ein Pfau gilt aber mehr in seinem eigenen Garten ohne Vergleich. Anders gesagt: in Berlin ist es die konservative, christliche Großfamilie mit bürgerlichen Werten, die angesichts des grauen Einerleis von herbeiphantasierter Buntheit als Ausnahme gelten muss.

Zurück zu Palatina, eine Stadt mit 50.000 Einwohnern und einer nicht ganz fest umrissenen Größe, von der nur bekannt ist, dass sie im Westen vom Tyrrhenischen Meer, im Osten von den Ausläufern des Apennins begrenzt wird, und der Norden in die Maremma übergeht. Irgendwo taucht die Angabe auf, es seien wohl in der Breite 35 Meilen, in der Länge 50 Meilen Ausdehnung – vielleicht war es auch umgekehrt. Selbst diese kleine Republik hat neben der eigentlichen Hauptstadt noch eine Untergliederung in ehemalige freie Teilstaaten, so Porto Vecchio am Meer, die Grafschaft Borghetto oder die Festungsstadt Castiglione sul Mandro. Die Größenordnungen liegen bei diesen irgendwo zwischen 8.000 bis 15.000 Einwohnern. Anschließend existieren Kommunen von der Größe irgendwo zwischen größeren Orten und kleinen Landstädten.

Wieso ich dies hier aufführe: die Kleinmaschigkeit italienischer Kultur ist natürlich ein Teil dieser ironischen Parallelwelt der Renaissance, zugleich hat sie aber einen so wahren Kern. Mancher Leser meinte mal, dass diese Vielfalt in dieser geographischen Größe wohl kein Vorbild haben könnte. Vielleicht kein reales, das stimmt – aber es fasst ganz gut den italienischen Geist, vergleichen wir Fiktion und Historie. Nicht nur Palatina ist vergessen, sondern auch jene winzigen Fürstentümer, deren Herrschaftsanspruch in Italien nur der Ruf seiner Höfe, Kultur und mancher Dienst als Söldnerführer am Leben hielt. Gegen sie waren selbst die Kleinstaaten Lucca, Monferrat, Saluzzo oder Mantua Riesen auf dem italienischen Stiefel.

Wenn in der Republik Palatina selbst auf den entlegenen Klippen von San Lucca noch im kleinsten Dorf ein Turm der Malteser vom Widerstand des Abendlandes gegen die Osmanen kündet; in einem Bergdorf des Apennins eine mysteriöse, heilige Reliquie von einer alteingesessenen Dynastie verwahrt wird; und am winzigen Flüsschen von Tondino eine monumentale Steinbrücke mit festungsähnlichen Türmen die Ufer überspannt; dann ist das nicht nur Liebe zum Detail – oder im Falle des Ponte Capuletti: Liebe zum Größenwahn – sondern auch eine tiefe Empfindung hinsichtlich dessen, was Italianità ausmacht.

Bereits jedes Dorf zwischen Alpenkamm und Sizilien wetteiferte mit dem Nachbarort um die schönere Kirche. Mein italienischer Heimatort hat die zweifelhafte Vorgeschichte, dass dieser ursprünglich aus zwei unabhängigen Dorfhälften bestand, deren Bewohner vor allem die jeweilige Kirche ausschmückten, um die verfeindete Gemeinde auszustechen. Die traditionell jüngere und „ärmere“ Kirche protzte dafür mit einem Altarbild Palma des Jüngeren, wonach die herausgeforderten Nachbarn den Innenraum mit Marmor und Granit ausschmückten. Es folgte der Wettkampf um den größeren Glockenturm, anschließend um das schönere Glockenspiel.

Kleinstaaterei und Separatismus, mittlerweile sogar Konföderalismus oder Föderalismus gelten als Übel, dabei entsteht Kreativität, Originalität und Wetteifer in dem, was oftmals als Provinz gegeißelt wird. Moderne Städte verlieren ihre Schönheit oftmals in Großkotzigkeit, in nie enden wollenden Straßenzeilen desselben Geschmacks oder Einzelgebäuden, die Beton, Glas und den übermäßigen Gebrauch eines Geodreiecks zelebrieren, im Glauben, ein großer hässlicher Würfel allein sei Baukunst, weil er „anders“ – in Wirklichkeit: besonders grässlich – sei. Vielleicht ist Rom auch deswegen die ungewöhnlichste Hauptstadt in Europa, weil Ruinen, Hindernisse und Hügel das Zentrum dafür versperrten, aus diesem einen wuchernden Moloch zu machen wie Paris oder Berlin, die sich im Tiefland zu einem Krebs erstrecken konnten; was nicht heißt, dass die Randbezirke von Rom locker die tumorartigsten Verfehlungen von Basildon nicht in den Schatten stellen würden. Stichwort Corviale. Wenn die größte Architekturnation des Globus Mist baut, dann richtig und mit dicken Schaufeln. Das Rom aber erst ab dem Zeitpunkt (wieder) zum Geschwür mutierte, als es zum Sitz eines Zentralstaates wurde, kann kaum ein Zufall sein.

Guastalla

Der Name Mantua fiel bereits weiter oben; aber was für ein titanenhafter Komplex war doch dieses Herzogtum verglichen mit seinem Nachbarn Guastalla! Guastalla, ein winziger Flecken Erde, vielleicht eine Quadratmeile groß, am großen Fluss Norditaliens in seinen saftigsten Ländern gelegen, auf halbem Weg von Mantua nach Reggio. Eine Grafschaft der Familie Torelli, deren letzte Erbin Lodovica sich ganz dem religiösen Leben verschrieb und es Gott allein widmete, ihren Sitz in Mailand nahm und ihr schönes kleine Erbe für 22.000 Scudi verkaufte. Verrat war das keiner, vielleicht die beste Wende, denn Guastalla fiel zwar an die Familie Gonzaga, nicht aber an das Herzogtum Mantua. Stattdessen herrschte ab 1539 eine Seitenlinie in Guastalla, und es passierte das, was eben geschieht, wenn man die Cousins nicht ausstehen kann.

Ferrante Gonzaga, der fünfte Sohn des Herzogs von Mantua, Francesco II. Gonzaga, und seiner Gattin Isabella d’Este – er ein erfolgreicher Feldherr mit wechselndem Herren, sie eine der kunstsinnigsten Frauen der italienischen Geschichte – macht wie sein Vater Karriere im Militär, genauer gesagt in Diensten Kaiser Karls V. Ferrante stirbt in der Schlacht von Saint-Quentin, einer der bedeutendsten Auseinandersetzung zwischen dem habsburgischen Spanien und Frankreich. Guastalla, Tochter eines Feldherrn, wird damit das Militär in die Wiege gelegt, Ferrantes Nachfolger bauen die kleine Stadt zu einer bedeutenden Festung mit modernen Anlagen aus. Guastalla bekommt damit zwischen Mantua, Mailand, Parma und Modena eine bedeutende Funktion als Stützpunkt.

Dabei bleibt es aber nicht. Die Gonzaga von Guastalla errichten einen prunkvollen Palast, eine Kathedrale, ein Ritterdenkmal im Renaissancestil und schmücken das kleine Guastalla – mehr als 15.000 Leute leben hier bis heute nicht – prächtig aus. Künstler wie Torquato Tasso und Guercino verkehren am Hof. Im Jahr 1671 lässt der Herzog – den Titel verleiht Kaiser Maximilian II. bereits 1621 an die Herrscher – sogar ein eigenes Theater errichten, eine Einrichtung, von der manche französische oder deutsche Provinzstadt von größerer Einwohnerzahl nur träumen kann. Und ähnlich wie bei Palatina fallen an diesen Zwergstaat Territorien, die ebenso klein wie fein sind: dazu gehören ab 1630 die nördlich gelegene Kleinstadt Luzzara und der östliche Nachbar Reggiolo – allein dieser Name – und zuletzt das Fürstentum Bozzolo (1708) und das Herzogtum Sabbioneta. Sabbioneta, ähnlich wie Guastalla ein Zwergstaat, dessen Hauptstadt eine ebenso liebevoll gestaltete Renaissancestadt ist. Geben Sie den Gonzaga eine Kleinstadt in die Hand und sie machen ein Juwel daraus!

Das enge Schicksal Guastallas mit seinen herzoglichen Heerführern wird ihm am Ende zum Verhängnis. Nachdem die spanisch-habsburgische Dominanz abnimmt und die Franzosen die Überhand gewinnen, reiht sich ein militärischer Fehlschlag an den nächsten, da Guastalla von seinen Feinden besetzt, geplündert und die Mauern geschliffen werden. Die letzten beiden Herzöge Antonio Ferrante und Giuseppe Maria sind Brüder, einer so unfähig wie der andere: Antonio Ferrante ist ganz das Klischee eines dekadenten Herrschers des 18. Jahrhunderts, der mehr mit Jagd und anderen Vergnügungen zubringt, indes sein Land im Schlachtfeld des Spanischen Erbfolgekrieges zugrunde geht. Sein Bruder Giuseppe Maria ist von Beginn an ein kränkliches Kind, leidet frühzeitig an Demenz, Lähmung und allen möglichen Tics und Manien. Womöglich war die Idee seines Vaters, die Tochter seines Cousins zu heiraten, nicht die beste Idee gewesen; die anderen, unvermeidlichen Klischees überlasse ich den Lesern. Beide Herzöge sind nicht einmal in der Lage, Nachwuchs zu zeugen, sodass Guastalla nach Giuseppe Marias Tod im Jahr 1746 als erledigtes kaiserliches Lehen eingezogen und an den Herzog von Parma vergeben wird. Nachklang findet der Name Guastalla nur noch in Lessings Drama Emilia Galotti sechsundzwanzig Jahre später: der Dramatiker verlegt die Handlung an den Hof dieses kleinen, untergegangenen Fürstentums, um nicht die eigentlich Gemeinten allzu deutlich zu kritisieren.*

Trotz dieser blamablen – und aufgrund des Klischees: passenden! – letzten Episode ist Guastalla ein Sehnsuchtsort. Denn selbst in seinem Untergang wahrte es das Versprechen, das dekadente Monarchien erfüllen müssen. Auch hier war der Zwergstaat wieder auf einer Höhe mit seinen Konkurrenten. Sogar eine eigene Dialektvariation hat dieser kleine Ort hervorgebracht. Ein Staat von wenigen tausend Köpfen, wo jeder jeden kannte, und der Herzog seine Liebe zum Detail deswegen so auslebte, weil bereits die nächsten Straßen den Großteil seiner Gesamtherrschaft ausmachte. Keine Anonymität, kein gewaltiger Beamtenapparat, stattdessen: gelebter Lokalismus.

Aber solcherlei Selbstverwaltung ist heute, angesichts der Phantastereien von europäischen Großräumen, de facto nicht einmal mehr denkbar.

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*Daneben erreicht der Nachbarort Gualtieri kurze Prominenz in den 1950ern: im ersten Don-Camillo-Film ist Gualtieri der Bahnhof, wo Peppone mit den Kommunisten wartet, um Don Camillo vor seiner Reise ins Exil zu verabschieden. Die Bahnhofstation davor ist Boretto, die ebenfalls in den Filmen vorkommt; davor liegt bereits Brescello selbst.
Sie sehen: das ist „die Kleine Welt“ Giovannino Guareschis im wahrsten Sinne!

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