Manche Wünsche erfüllen sich erst im letzten Moment. Es gibt Lebensträume, die erfüllen sich manchmal unverhofft; manche tun es, und man lässt sie verstreichen. Beispiele gibt es dafür auch in meinem Leben. Bis heute leide ich darunter, dass es mir nicht gelungen ist, nach jahrelanger Suche und zuletzt Erfolg hinsichtlich einer Romanveröffentlichung dieses Projekt aus eigenem Verschulden fallen gelassen zu haben. Zehn Jahre und mehr als ein Dutzend Projekte hatte es verlangt, bis sich eine Möglichkeit dafür bot. Ich ließ sie verstreichen, weil aktuelle Veränderungen in meinem Leben es unmöglich machten, größere Passagen umzuschreiben.
Ein anderer Traum betrifft Ennio Morricone. Morricone ist mehr als ein gewöhnlicher Komponist. So gerne ich Williams, Hisaishi oder Zimmer höre – manche Stücke von ihnen sogar lieber als das eine oder andere Werk des Italieners – so ist doch der über neunzig Jahre alte Römer eine Legende, die als Phänomen des musikalischen 20. Jahrhunderts ein Symbol für die Ewigkeit ist. Morricone ist bereits jetzt eine historische Persönlichkeit und es ist nicht auszuschließen, dass eines Tages Konzerte stattfinden, in denen man seine Musik spielt wie man heute Strauss, Mahler oder Prokofiev aufführt. Vielleicht geht dies zu weit – aber insbesondere Italien hat einen solchen Respekt vor diesem Meister, dass es wenigstens für die Halbinsel wahrscheinlich scheint, dass dort einmal Philharmonien seinen Namen tragen.
Während Hans Zimmer Deutschland verließ, um in Amerika Karriere zu machen, liegt der Fall bei Morricone etwas anders. Zimmer und Morricone machten Karriere in Hollywood; aber im Gegensatz zu Zimmer ist Morricones Verhältnis zu seiner Heimat ein ganz anderes. Morricone ist immer in seinem tiefsten Herzen Italiener; und seine Musik ist immer ein Stück italienischer Seele. Das zeigt sich schon daran, dass Morricone immer wieder Musik für italienische Filme geschrieben hat, ob für die Leinwand oder das Fernsehen. Der Marco-Polo-Soundtrack stammt aus seiner Feder – gibt es etwas Ähnliches für den deutschen Film? Man mag anführen, dass die deutsche Filmkultur nicht mit der italienischen vergleichbar ist, Zyniker würden einwerfen, dass Deutschland keinen Leone kannte, keinen Sorrentino kennt.
Aber da ist mehr: trotz der gewaltigen Quantität von 500 verschiedenen Filmen, die das Repertoire Morricones abdecken, sind sie eben kein seelenloses Popkornkino. In der Tat: nicht jede dieser Filmmusiken ist grandios, es existieren deutliche Unterschiede. Die große Bandbreite macht Überschneidungen auch nicht selten; und dennoch ist es beeindruckend, wie Morricone trotzdem immer wieder neue Wege ging, wie er im Italo-Western neuartige, befremdende, faszinierende Geräusche verwendete, um eine bis dato unbekannte Atmosphäre aufzubauen.
Kurz gesagt: einer meiner Lebensträume war es, Morricone live zu sehen. Das Zeitfenster dafür ist erheblich geschrumpft, nachdem der Komponist am 10. Februar 2018 seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hatte. In den letzten Jahren hatte ich gleich zweimal versucht, ein Konzert zu besuchen; zweimal hatte ich Karten gekauft, zweimal wurden die Konzerte aus Gesundheitsgründen im letzten Moment abgesagt.
Morricone hat nach einem halben Jahrhundert als Dirigent und Komponist die Entscheidung gefällt, seine Karriere mit einer Abschiedstournee zu beenden. Nur eine Handvoll Städte außerhalb Italiens hat er dafür ausgewählt: Krakau, Berlin, Budapest, Prag, Stockholm, Fornebu, Antwerpen, Dublin. Zweimal will Morricone „bei uns“ in der Arena von Verona auftreten, sechsmal in seiner Heimatstadt Rom, einmal in Lucca. Die Auswahl zeigt neuerlich eine tiefe Verbundenheit zu Italien: denn die Hälfte aller seiner Abschiedskonzerte finden genau dort statt. Selbst große Länder wie Frankreich, Großbritannien oder gar die USA werden von ihm ausgelassen.
Es war purer Zufall, dass ich nur drei Tage vor dem Berliner Konzert davon erfahren habe. Und wie durch ein Wunder waren noch Karten verfügbar. Die Veroneser Option wäre mir aufgrund der Urlaubsplanung schlicht unmöglich gewesen wahrzunehmen, wie sich später herausstellen sollte.
Morricone dirigiert nur noch im Sitzen. Aber es ist bewundernswert, wie er eh und je dirigiert, wie er bereits morgen in Ungarn das nächste Konzert hält, wie er es sich auch nicht nehmen ließ, drei Zugaben an diesem Abend zu halten. Es sind schlicht alle Vorurteile im positiven Sinne wahr. Als eine sehr schöne Entscheidung stellte sich heraus, dass Morricone neben solchen Klassikern wie The Good, the Bad and the Ugly oder Mission auch Stücke neueren Datums – wie etwa Ostinato Ricercar per un Immagine – oder ältere Werke, die man fast vergessen hat (Abolicao aus „Queimada“). Da nimmt man in Kauf, dass die Mercedes-Benz-Arena aus mehreren Gründen eine Fehlentscheidung für die Aufführung war. Glücklich, wer Morricone noch einmal sehen konnte.