Der Deutsche vor 1945 dachte, er sei der Drachenbezwinger Siegfried; der Deutsche von heute denkt, er sei der „Schurke“ Hagen. Weder der eine, noch der andere will sich eingestehen, dass er im Grunde am meisten mit dem Burgundenkönig Gunther gemein hat.
Die Nibelungen als das deutsche Epos par excellence hängt seit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts über dem Haupt der Deutschen. Im wilhelminischen Kaiserreich und im Nationalsozialismus spielte die Nibelungentreue eine sprichwörtliche Rolle – wenn auch jeweils anders verstanden. Die positiven Aspekte überwogen dabei im langen 19. Jahrhundert und seinen Ausläufern. Mit Sigfried bot das Nibelungenlied einen deutschen Achill als Identifikationsfigur. Dass das Nibelungenlied dabei selbst Sigfried vielleicht ganz anders intendiert hat, als es so mancher Rezipient es später getan hat, steht dabei noch auf einem gesonderten Blatt.
Mit der totalen Niederlage und Ächtung des deutschen Chauvinismus bestand die Chance, die Nibelungen wieder an die richtige Stelle zu rücken. Das scheiterte ebenso katastrophal wie der Zweite Weltkrieg. Nun galten die Burgunden als unbelehrbare Täter, gewissermaßen als medievale Vorläufer des Untertanentypus. Der Held Sigfried war weg, aber sein Mörder, der Schurke Hagen, blieb – und damit der hässliche Deutsche. Dass diese Interpretation schon deswegen hinkt, weil Hagen eine viel zu komplexe Figur ist, als ihn in ein Korsett heutiger schwarz-weißer Ideenmuster zu zwängen, wird recht schnell offenbar. Das viel treffendere Argument, warum die Rechnung nicht aufgeht, ist aber vielmehr der „Führer“, nämlich König Gunther.
Gunther eignet sich im Grunde für keines der Narrative. Als Anführer ist er eine Fehlbesetzung, dem man nicht aus charismatischen Gründen, demokratischer Wahl oder beamtentechnischen Vewaltungsapparat des rational-modernen Staates folgt, sondern aus traditionellen Motiven der Abstammung, heißt der Königsherrschaft als solcher. Damit erfüllt er weder übersteigerte nationalistische Wunschträume vom starken Herrscher, noch selbstgeißlerische Vorstellungen von einem großen Verführer, der das Volk für seine Pläne in den Tod treibt.
Der Burgundenkönig ist im Grunde ein Pantoffelheld. Als der Held Sigfried in Worms ankommt, um sein Reich einzufordern, überlässt Gunther die Verhandlungen anderen Leuten. Brünhilde, die er begehrt, muss ihm Sigfried herbeischaffen; ja, sogar in der Hochzeitsnacht bedarf es noch der Hilfe des Drachentöters, damit der König die Ehe vollziehen kann. Gunther zeigt sich prinzipiell als konfliktscheu, als jemand, der Herausforderungen meidet oder andere manipuliert, damit sie die Drecksarbeit für ihn erledigen können. Probleme verschiebt er auf später, auch wenn das bedeutet, dass er damit Gefühle und das Recht verletzt. Es ist nicht zuletzt diese Verdrängungshaltung, die letztendlich zum Untergang der Nibelungen führt. Sie paart sich mit einer Politik des kurzfristigen Machterhalts, der letztendlich er selbst, sein Heer und sein ganzes Königreich zum Opfer fallen. Einzig die Treue der Gefolgsleute, die von der Falle wissen, bleibt dieselbe.