Bleiben wir bei Machiavelli und seiner Zeit. Betrachten wir dieses zerbrechliche Stück Kristall, das die italienische Renaissance war. Im Gegensatz zu sonst will ich hier die politisch-diplomatische Struktur zurückstellen, obwohl sie mein eigentliches Feld ist. Wir bleiben bei Geist und Kultur. Viel zu oft wird hier Machiavelli genannt, viel zu selten sein Kollege, Freund, Bewunderer und Kritiker Guicciardini. Biographisch nah und fern, indirekt Rivalen, und dennoch einander schätzend; beide mit verschiedenem Temperament und Weltsicht. Beide vermutlich die größten Historiker der Renaissance. Beide beseelt vom Gang der Geschichte, geprägt vom Niedergang ihrer Länder, die sie schriftlich kommentiert und eingeordnet haben.
Geschichte wiederholt sich womöglich nicht, reimt sich aber und erlebt Stadien von Wachstum und Niedergang. Die Alten waren noch ganz dieser Überzeugung, denn sonst hätten sie sich gar nicht an der Geschichtsschreibung versucht. Besonders in Italien herrschte die Vorstellung vor, dass Chroniken und Stadtgeschichten späteren Ratsherren helfen sollten: denn wenn eine Republik in eine Krise geriet, konnte es nachfolgenden Generationen in ähnlichen Situationen helfen, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Objektiv ist Geschichtsschreibung womöglich nie. Aber sie hatte ein Ziel. Deshalb waren es einst vor allem Staatsleute, die nach ihrem Dienst ein Geschichtswerk schrieben: überzeugt davon, dass ähnliche Herausforderungen wiederkehrten, sollte das Handeln der Bürgerschaft, der einzelnen Tatmenschen und die Entscheidungen selbst beleuchtet werden, im Guten wie im Schlechten. Sie waren Beispiel und Abschreckung zugleich.
Erst Guicciardini findet zu einer eigenen Form der Geschichtsphilosophie innerhalb seiner Geschichte Italiens: er zweifelt daran, ob verschiedene Zeiten überhaupt vergleichbar seien, sieht das Detail, das Besondere und die Singularität, nicht die großen Gemeinsamkeiten zwischen den Zeitaltern. Kann man überhaupt etwas aus Geschichte lernen? Hat Geschichte eine Richtung, einen Zyklus? Die Umstände sind es, keine allgemeingültigen Gesetze, die das Schicksal der Staaten bestimmen. Guicciardinis Werk ist in der Bandbreite dessen, was es bespricht und zeigt, in seiner Tiefe, seinen Details, seiner Psychologie und auch seiner Tragik unübertroffen. Es beinhaltet fast faustische Tendenzen, wenn Guicciardinis Geist im Anblick der chaotischen Verhältnisse Italiens sagen will, dass er nichts rechtes erkennen oder wissen kann. Es will ihm schier das Herz verbrennen.
Machiavelli ist da viel selbstsicherer. Ihn grämt nicht die Geschichte selbst. Der ältere Freund Guicciardinis glaubt die Rezepte zu kennen, nach denen die Geschichte verläuft. Er ist von festen Zyklen überzeugt, vom Aufstieg und Untergang, davon, dass die Geschichte einem alles in die Hand gibt, um für die Zukunft gerüstet zu sein (wenn wir von der Fortuna absehen). Machiavelli leidet vielmehr darunter, dass sein Vaterland in Gefahr ist, dass Florenz seine Freiheit einbüßt, dass nicht die Fähigen, sondern die Netzwerker an der Macht sind. Daher ist er bereit, so viel auf den starken Staat zu werfen, damit seine Heimat endlich wieder neu erstehen kann. Wer glaubt, Machiavelli sei ein nüchterner Analytiker der Macht, kann dies nur behaupten, wenn er ihn nie mit Guicciardini verglichen hat. Denn Machiavelli ist Idealist, er glaubt an die Freiheit, er glaubt an die Meritokratie, er glaubt an Rom. Für seine Überzeugungen erleidet er Folter und Exil; Guicciardini dagegen, sein Freund aus besserem Hause, arrangiert sich mit den neuen Machthabern.
De Sanctis fasste es so zusammen: »Machiavellis Gott ist der Staat. Guicciardinis Gott ist das Eigeninteresse [il particolare].«
Zufall, dass Guicciardini, der sich im Besonderen, im Detail verirrt (nicht verrennt!), zugleich als „Inidvidualist“ gilt, in dem Sinne, dass er das Individuum in der Geschichte entdeckt und ihm größten Stellenwert zuspricht? Natürlich sieht Guicciardini nicht die Bauern oder Handwerker, sondern Diplomaten, Feldherren, Fürsten, Bischöfe, Könige und Päpste als jene Individuen, die Geschichte formen. Eine Weltsicht, die im Grunde genommen ebenso wenig falsch ist wie die Einsicht, dass es Eigeninteressen sind, welche die Protagonisten treiben – wenn sie nicht aufgrund ihrer mickrigen Triebe und Sehnsüchte von dieser zermalmt werden. Guicciardini erkennt glasklar, dass es diese Eigeninteressen, dieses „particolare“ ist, das Italien (und damit auch immer wieder: die Welt) in den Abgrund geführt hat. Man muss zwar nicht Guicciardini heißen, um zu wissen, dass Eigenwohl und Gemeinwohl im Widerstand stehen, aber es gibt wenige Darstellungen wie jene der italienischen Renaissance, die das immer wieder so plastisch offenbaren. In jenem Punkt finden Machiavelli und Guicciardini zusammen: der Egoismus der Fürsten hat Italien ruiniert.
Im Groben mag dies eine Binsenweisheit sein. Sehen wir jedoch auf die Abläufe, auf die Egoismen, auf die Inkompetenz der Staatsführer, dann werden Parallelen schnell offenbar. Was Machiavelli so sympathisch macht – ja, denken Sie: ausgerechnet diese angebliche Ausgeburt des Teufels! – ist sein Idealismus, seine Vision, sein Träumen innerhalb einer Welt von Zynismus und Machtstaat. Es ist ein ganz und gar origineller Geist, der bereit ist, das zu tun, was er so berühmt-berüchtigt im Principe empfiehlt: nämlich, Böses zu tun, wenn es als letztes Mittel dazu dient, den Staat zu sichern. „Staat“ ist in diesem Sinne aber eben nicht nur das System, sondern auch der Status, die Art zu Leben, die gegenwärtige Situation, in der man sich befindet, im Sinne eines „Status quo“. Machiavelli gibt viele Ratschläge in seinem Leben, wagt viele Prognosen – und liegt auch immer mal wieder daneben. Machiavelli ist der festen Überzeugung, dass es weitergeht, dass es weitergehen muss. Im Grunde ist er ein Romantiker – mit der Betonung auf der ersten Silbe, betrachtet man nur seine Verherrlichung der Gründerzeit Roms, obwohl diese schon damals als erstunken und erlogen galt.
Guicciardini ist dagegen eine besonnene und mäßigende Gestalt. Immer wieder merkt er in den Briefen mit dem älteren Machiavelli seine Kritik an, macht auch seine eigenen „Gegenüberlegungen“ publik. Dennoch ist da eine merkwürdige, ruhige Bewunderung für den exilierten Machiavelli. Ich glaube, dies war nicht nur der Brillanz und der Klarheit Machiavellis zu verdanken. Vielleicht war da auch eine stille Einsicht, dass Machiavelli sein Leben – mit all seinen Brüchen und Dellen – ehrlicher lebte. Bemühten wir Machiavellis Sarkasmus, so würde dieser womöglich sagen, Guicciardini habe sein „Eigeninteresse“ selbst als oberstes Prinzip gelebt. Obwohl Guicciardini Korruption und Nepotismus in der florentinischen Republik (später: Herzogtum) skeptisch gegenüberstand und kein Freund der päpstlichen Politik war, arbeitete er für beide. Guicciardini entstammte der florentinischen Oberschicht, fiel in Notfällen sanft.
Seine Portraits der Lebenden und Toten fallen nüchtern aus, Situationen und Ereignisse werden psychologisch meisterhaft, aber so kalt und präzise geschildert, dass eine fast unheimliche Distanz sein Werk beherrscht. Nichts bleibt von dem scharfen Seziermesser seiner historischen Analyse verschont. Nochmals ein Zitat von De Sanctis: »Gleich welches Thema er nur anfasste, schon lag es als Kadaver auf dem Autopsietisch.«
Nichts ist Guicciardini so fern wie Machiavellis Enthusiasmus (und oftmals auch Witz). Machiavelli ist kein Christ, aber er glaubt an etwas. Wieder De Sanctis: »Alle Ideale verschwinden bei ihm. Jede religiöse, moralische oder politische Bindung, die ein Volk zusammenhält, ist bei ihm zerbrochen. Nichts bleibt bei ihm auf der Weltbühne außer das Individuum. Jeder für sich, mit oder gegen alle.«
De Sanctis war ein Mensch des 19. Jahrhunderts, der Romantik, des Patriotismus, der Ideale und der Schönen Künste. Seine Bewertung Guicciardinis mag negativ erscheinen, aber vermutlich hätte Guicciardi sie oftmals bejaht. Machiavelli wie Guicciardi sezieren die Welt, wie sie ist. Aber Machiavelli verliert die Leidenschaft nicht. Bei Guicciardini sehen wir dagegen einen Menschentypus, wie er uns heute überall begegnet, losgelöst von seinen Wurzeln; mit dem Unterschied, dass diesen letzten Menschen die Intelligenz und Analysefähigkeit des Machiavelli-Freundes fehlt. Wenn wir auf Guicciardini und sein Werk blicken, sehen wir Symptome und Parallelen, die uns nur allzu vertraut sind.