Ich bin ein schlechter Deutscher. Für mich ist der sonntägliche Vorgang keine Pflicht, keine erhebende Sache, nicht begleitet von nächtelangem Ringen mit Schlaf und Gewissen. Es ist ein einfaches Kreuz auf einem Blatt Papier – um das ich nicht viel Terz machen möchte. Womöglich haben einige gute Staatsbürger eben diese große Bürde und dieses hochheilige Ritual deswegen so verinnerlicht, weil sie ansonsten nicht daran gewöhnt sind, irgendwie mitbestimmen zu dürfen. Aus Italien trudelt bei mir jedes Jahr mindestens ein Referendum ins Haus; aus Berlin dagegen erhalte ich über Verfassungsreferenden, Gesetzesabstimmungen oder die Möglichkeit Erdgasanlagen in Naturschatzgebieten zu errichten – niemals Post. Und wie ich Deutschland kenne, wird es dabei auch lange Zeit bleiben. Noch einmal: ich rede von meiner italienischen Staatsbürgerschaft, nicht einer schweizerischen. Italien ist eine repräsentative parlamentarische Demokratie wie Deutschland, aber bereits eine Abstimmung über Veränderungen wie im Dezember 2016 erscheint hierzulande unmöglich.
Einige Deutsche scheinen daher dieser einen Möglichkeit so viel Gewicht einzuräumen, weil sie sonst nicht viel haben. Demonstrationen? Eine undeutsche Sache außerhalb der Gewerkschaften; auch da liegen die Welschen vorne. Parteiarbeit? Ja, das liegt dem Deutschen schon mehr. Größtenteils ist Politik aber für den Germanennachfahren eine schmutzige Sache, amoralisch, etwas, mit dem er nichts zu tun haben will. Daher wünscht sich der Michel auch immer irgendwelche Übermenschen an der Spitze. Sie müssen klug sein, Sicherheit geben, und natürlich moralisch einwandfrei. Diese Übermenschen kennen wir dann in den folgenden fleischgewordenen Formen: Merkel, Altmaier, Gabriel, Schulz, Seehofer, Özdemir, Göring-Eckhardt, Christian Lindner. Der Deutsche hat einen hohen Anspruch an seine Vertreter, wählt dann aber aus Verantwortung doch wieder dieselben Gesichter. Dass sich hier Realität und Anspruch beißen, scheint ihn nicht zu kümmern.
Mir ist solches Geschwätz eine höchst befremdliche Angelegenheit. Politik ist per se unmoralisch; Moral von ihr zu verlangen, das ist absurd. Es ist dieselbe Haltung, mit der Vegetarier zum Mongolengrill gehen. Mir ist ein Politiker größtenteils egal, solange er nicht dem Staat schadet. Die Aufgabe der Politik ist es, den Staat zu bewahren. Daher heißt es im Eid des Bundeskanzlers auch, dass es Schaden vom Volk abzuwehren gilt, und nicht etwa, dass alle glücklich werden sollen.
Ebenso verstehe ich nicht, wie man der Meinung sein kann, eine Partei müsse hundertprozentig mit der eigenen Meinung vereinbar sein. Zuerst einmal ist dies niemals der Fall; niemand hat komplett dieselbe Meinung wie jemand anders. Ginge man danach, gäbe es in Deutschland ca. 80 Millionen Parteien. Es sind politische Interessengemeinschaften mit einem großen gemeinsamen Nenner. Eine Partei muss auch nicht politische „Heimat“ sein. Wer sich wirklich voll und ganz mit einer Partei identifiziert, kann dieser gerne beitreten. Für eine einfache Wahlentscheidung qualifiziert das aber nicht. Politik ist kalt, der Staat das kälteste aller Ungeheuer, die Steigerung von Erzfeind Parteifreund, und wer wirklich einen Freund in der Politik haben will, der leistet sich besser einen Hund. Wer hier von Nestwärme in irgendwelchen Belangen träumt – dem ist nicht zu helfen.
Sie können gerne Ihre Stimme ungültig machen, weil Sie damit Protest ausdrücken wollen – oder ganz der Wahlurne fernbleiben. Auch dieses Konzept bleibt mir fremd. Die Politik denkt nicht um. 30 % Nichtwähler bedeutet für einen Politiker nicht Protest, sondern Desinteresse. Unmut wird dann nicht wahrgenommen. Libertäre mögen das als großen Wurf geltend machen; ich halte es aber für die Aufgabe eines Hebels bzw. eines Werkzeugs. Ja, wenn es nach Kant alle täten, dann ergäbe es Sinn. Aber nur eine einzige abgegebene Stimme gäbe dem System recht. Im Zweifelsfall geht sie an eine Partei, die einem weniger schmeckt als die andere. Die Wahrscheinlichkeit beträgt demnach 1:80 Millionen. Ein solches Vorgehen mag edel anmuten, ist aber realpolitisches Harakiri. Weimar kannte einen nach Wahlbeteiligung wachsenden oder schrumpfenden Reichstag. Solange das nicht der Fall ist, ist der Wahl gegenüber der Nichtwahl der Vorzug zu geben.
Eine Wahl war immer – soweit ich das als Historiker zurückverfolgen kann – eine Wahl zwischen mehreren Übeln. Das ist schon deswegen der Fall, weil Herrschaft an die Gewählten abgegeben wird, statt dass die Wählenden sie ausüben. Man begibt sich immer in die Hand eines anderen. Das wussten schon die Großen des Reiches bei der Kaiserwahl. Man fühlt sich dem einen womöglich mehr verbunden als dem anderen, aber wenn es nicht gerade verwandtschaftliche Beziehungen gibt, so geht die Wahl doch immer nach dem eigenen Vorteil. Sie wählen also für Deutschland? Noch mal, schauen Sie sich die Gesichter an: das sind keine Genies, keine Übermenschen, das sind Leute wie Sie und ich. Lassen Sie also den heiligen Ernst weg. Keine dieser Parteien interessiert sich für Deutschland. Sie vertreten Interessen. Interessierten sie sich wirklich für Deutschland, dann würden Politiker für ihr Fehlverhalten bürgen (wie Venedig) oder danach verklagt werden (wie in Rom). Mit Ihrer Stimme bewegen Sie ein behäbiges politisches System nur um einige Millimeter. Ja, selbst wenn Sie morgen die MLPD oder die NPD wählen würden und diese einen Wahlsieg mit 51 % einführen, so würde sich in Deutschland vergleichsweise wenig ändern. In Deutschland herrscht zuerst einmal die Bürokratie. In der MLPD und der NPD sitzen Knallchargen, meinen Sie? Im Gegensatz zu wem? Zu Peter Altmaier in der Union? Zu Ralf Stegner in der SPD? Zu Volker Beck bei den Grünen? Und da soll irgendein Nazi oder ein Trotzkist im Bundestag wirklich eine schlechtere Figur machen? Belügen Sie sich nicht selbst. Wir sind spätestens seit den späten 80ern am Ende. Aber Angsthaben ist ja neben der Pflicht um der Pflicht willen Deutschtum in Reinkultur (fast hätte ich Leitkultur geschrieben!).
Sie können jetzt gerne ihr Kreuz machen, nachdem Sie Ihr Gewissen gründlich erforscht haben. Verzeihen Sie, wenn mir derlei lächerlich erscheint. Mir liegt es auch fern, irgendjemanden belehren zu wollen. Das ist schon Ihre Entscheidung. Für mich bleibt es ein rein bürokratischer Vorgang. Politik ist nichts Heiliges, nichts Moralisches. Sie war und ist: reine Taktik. Vielleicht kommt dem einen oder anderen ein warmes Gefühl über das Herz, das sich über die Adern bis in die Finger ausbreitet, weil Onkel Knut nun bereits seit 40 Jahren seine alte Tante SPD wählt, und sich zurückhalten muss, das Feld nicht mit einem Herz zu ummalen, statt es anzukreuzen. Für mich bleibt es dagegen ein harscher, kalter Vorgang, unterstrichen von einem zackigen Ratschen. Ich habe noch nie bei einer Entscheidung gehadert, obwohl ich je nach taktischer Lage jede der großen Parteien bisher gewählt habe, mit Ausnahme der Grünen und Linken.*
Mir ist dabei nicht bekannt, was sich in den letzten 30 Jahren geändert haben sollte, warum ich dies nicht auch am 24. September so fortsetzen soll.
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*Vermutlich, weil ich die bis heute nicht als Teil des bundesdeutschen, demokratischen Spektrums anerkenne. Soweit übrigens zu meiner Definition „demokratischer Parteien“.