Was war das alte Reich, jenes heilig-römische, jenes der deutschen Nation, das bis 1806 Mitteleuropa prägte? Es mehren sich diverse Artikel und Geschichtsumschreiber, welche im Zuge der Verneinung deutscher Identität sich am Reich abarbeiten (müssen). Das alte Reich – das je nach Sichtweise mit Karl dem Großen oder Otto dem Großen beginnt – ist ein Ärgernis für jene, die eine deutsche Geschichte, eine deutsche Kultur oder ein deutsches Volk heute verneinen. Seinen ersten Gegner erblickte das Alte Reich dabei zuerst im Zweiten Reich, das im Spiegelsaal von Versailles 1871 ausgerufen wurde. Während die Romantiker des beginnenden 19. Jahrhunderts noch vom Mittelalter, von Rittern, von Höfen schwärmten, und die Klassiker zuvor ihre Hauptfiguren der Frühen Neuzeit entlehnten – Goethe den Faust, Schiller den Wallenstein, um nur zwei zu nennen – so bewertete das ausgehende 19. Jahrhundert dies eher negativ. Den preußischen Historikern war gelegen, das von den protestantischen Hohenzollern gegründete Kaiserreich als Endpunkt der deutschen Geschichte zu stilisieren, als Lösung, als Zenit; schon die Bezeichnung „altes Reich“ ist doch in letzter Hinsicht ein Prussianismus, setzt er doch voraus, dass es auch ein neues gibt, nämlich eben das von Bismarck ins Leben gerufene. Bei einer meiner letzten Begegnung mit meinem ehemaligen Professor unterstrich ich dann auch, dass mir die Bezeichnung „altes Reich“ in der Forschung nicht gefalle und unterstrich, es handele sich um „das Reich“. Was sind denn schon die 47 Jahre unter drei preußischen Kaisern (von denen einer nicht einmal ein Jahr regierte!) gegen die Jahrhunderte ottonischer, salischer, staufischer oder habsburgischer Herrschaft? Von der Lächerlichkeit eines so genannten „Dritten Reiches“ zu schweigen. Lächerlich ist dabei weniger die nur zwölfjährige Existenz, als vielmehr das Fehlen eines Kaisers und eines Reichstags. Ein deutsches Reich, an dessen Spitze ein böhmischer Gefreiter steht, kann nur ein Witz der Geschichte sein.
Leider scheinen den die Deutschen damals nur falsch verstanden zu haben.
Die Einleitung sollte genügen, dass ich nunmehr nur noch vom Reich sprechen kann, ohne am Montagnachmittag von den kahanesquen oder maasschen Schergen abgeholt zu werden. Das Reich – so lese ich in letzter Zeit häufiger – sei eben irgendwie doch nichts gewesen, was man irgendwie als deutsch bezeichnen könnte. Interessanterweise werden dabei Argumente des 19. Jahrhunderts aus der preußischen Mottenkiste genutzt, um diese zu einem ganz anderen Zweck gegen eine irgendwie geartete Reichsidee zu verwenden. Kleinstaaterei, Streitigkeiten und Fehden zwischen den Fürsten, eigene Armeen, eigene Außenpolitik (mit verheerenden Auswirkungen wie im Dreißigjährigen Krieg) und die religiöse Teilung gelten als Motive, warum dieses „Deutschland“ kein Deutschland war. Bemerkenswert: all diese Angelegenheiten wurden von den Preußen noch als tragische, aber eben typisch deutsche Elemente gedeutet, die eine frühe Einheit lange Zeit verhindert hätten. Sie machten Deutschland zu einer „verspäteten Nation“. Dass es aber keine Deutschen gegeben hätte, darauf wären die damaligen Reichskritiker nicht gekommen: das Reich war schwach, es hatte seine Fehler, aber es war die Klammer des Deutschtums, der deutschen Kultur, der Deutschsprachigen und der Deutschfühlenden.
Ja, es stimmt: das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war kein Staat. In der Forschung spricht man daher auch nicht vom Reichsstaat, sondern vom Reichsverband. Wenn die Presse jedoch mangelnde Einigkeit zugleich als Nichtexistenz eines irgendwie gearteten deutschen Volkes ansieht, dann überspannt sie den Bogen. Die Fürsten des Reiches trafen sich auf dem Reichstag, sie berieten sich, sie verabschieden Gesetze (Reichsabschiede). So schwierig und kompliziert das war – es waren und blieben vornehmlich deutsche Fürsten, die dem Reich seinen Charakter gaben. Ausnahmen wie Trient, Cilli oder Böhmen mögen dem Reich einen „übernationalen“ Charakter verleihen, doch war gerade der Mangel an nicht-deutschen Wählern im Reichstag ein Hauptargument anderer Mächte, wieso der römisch-deutsche Kaiser zwar de jure als Nachfolger der römischen Kaiser gehandelt wurde, de facto aber ein deutscher König blieb. So äußerte ein venezianischer Diplomat auf die Frage eines habsburgischen Gesandten, warum er die Autorität des römischen Kaisers nicht anerkenne, dass der Kaiser nur von den Deutschen gewählt sei – aber nicht mit Zustimmung des französischen Königs oder der italienischen Fürsten. Ein wahrer römischer Kaiser, der als Oberhaupt des Abendlands regierte, müsste von allen Oberhäuptern Europas – inklusive Spaniens, Englands und anderer christlicher Mächte – gewählt werden. Dass man außerhalb des Reiches den Kaiser eben oft auch als „deutschen Kaiser“ titulierte, war daher ein politisches Statement, dass man dessen Anspruch auf die höchste Autorität in ganz Europa nicht akzeptierte. Dass der habsburgische Kaiser sich selbst weiterhin als Kaiser der Römer, aber nicht als Kaiser der Deutschen bezeichnete, hatte weniger mit der Verneinung eines deutschen Volkes, als vielmehr dem universellen Anspruch der jeweiligen Kaiserdynastien zu tun. Man gab die Idee niemals auf, vom Rang her über den anderen gekrönten Herrschern Europas zu stehen.
Ebenso falsch ist die Idee, dass die Reichsterritorien „Staaten“ gewesen seien, denn das waren sie ebenso wenig wie das Reich selbst. (Der Begriff der „Kleinstaaterei“ für das Reich ist allein deswegen falsch gewählt.) Zwar verfügten diese über eigene Armeen und hatten außenpolitische Handlungsmöglichkeiten. Einige westdeutsche und protestantische Stände unterhielten gute Kontakte zu Frankreich, der sächsische Kurfürst regierte in Personalunion als König von Polen, die Nachfahren norddeutscher Fürstenhäuser sollten später auf den Thronen Griechenlands, Russlands oder Skandinaviens sitzen. Als Fürsten in ihren eigenen Reichsterritorien konnten sie jedoch niemals der kaiserlichen Oberhoheit entfliehen und unterstanden dem im Reich gültigen Recht. Der Reichstag konnte sie zu Geldzahlungen oder Heeresdienst drängen, was verdeutlicht, dass die Fürsten niemals souverän waren. Selbst die in der Wissenschaft beschworene „Teilsouveränität“ ist im akademischen Betrieb nicht ganz unumstritten, da ein starker Kaiser bei erfolgreichen Kriegszügen den Reichsfürsten ihre Territorien auch entziehen konnte. In seltenen Fällen setzte die Reichsarmee den Willen des Reiches gegen aufmüpfige Fürsten durch.*
Es zeigt sich, dass das Reich ein Verband war, aber nicht so locker, wie sich das einige wünschen. Der Kaiser blieb selbst in den schlimmsten Flugblättern gegen die Regierung stets ausgeklammert; er schwebte als unsichtbarer Vater immer über den Dingen. Im Vergleich zu Frankreich waren die Fürsten stark; sie waren jedoch schwächer als die mächtigen Magnaten in Polen, wo man sich häufig fragte, ob Polen nicht eher eine Adelsrepublik denn eine Wahlmonarchie sei.**
Was das Reich vom späteren Deutschen Kaiserreich trennt – das ist seine friedenerhaltende Wirkung. Das Reich war nicht expansiv, nicht aggressiv, nicht an Weltgeltung nach außen interessiert; es hatte auch kein Interesse daran. Die habsburgische Dynastie mochte für sich universelle Herrschaft und Bedeutung beanspruchen, weil sie auch lange Zeit den spanischen König stellte. Das Reich als Institution war jedoch zu behäbig dafür – und hatte auch keine Ambition dazu. Es konzentrierte sich auf innere Angelegenheiten, auf die Durchsetzung von Recht und Gesetz, auf Ordnung und Frieden. Das Reichskammergericht galt als Anlaufpunkt für jeden, der sich übervorteilt fühlte: ob es sich nun um Nachbarschaftstreit zwischen Fürsten oder den zwischen Bauer und Grafen handelte. Die Mühlen in Wetzlar mahlten langsam, jedoch geben zehntausende Akten bis heute Aufschluss darüber, wie dort jeder Fall behandelt wurde, und auch die Subjekte der jeweiligen Fürsten vor Unrecht bewahrten. Ein Gericht wie das des Reiches sucht man in Frankreich vergebens; und während in anderen Ländern sich jene Herrschaftsform des Absolutismus ausbreitete, in denen die Monarchen die Macht immer mehr auf ihre Person ausrichteten, suchten die Deutschen auf ihren Reichstagen Konsens und Kompromiss.
Das Reich war daher mit sich selbst beschäftigt. Es war schwach, aber es funktionierte und hatte damit die wichtige Rolle im Abendland übernommen, die Mitte Europas stabil zu halten. Abgesehen von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges blieb die Pflege der Rechtstradition und die Bewahrung der Ordnung das Hauptgebiet der Deutschen. Man mag darin bereits die typische deutsche Mentalität, möglicherweise Spießertum erkennen. Es bewahrte aber Europa lange Zeit davor, dass es am deutschen Wesen genesen sollte – in welcher Form auch immer.
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*Der einzige Potentat, der sich dem erfolgreich entgegenstellte, war Friedrich II. von Preußen; die Machtlosigkeit des Reiches, welche die preußischen Geschichtsschreiber später beklagten, trieb Preußen selbst voran.
**Ich beziehe mich hier auf die kaiserliche Gewalt. Zwar hatten die polnischen Fürsten keine territoriale Herrschaft wie die deutschen Fürsten; der Kaiser geriet jedoch nie zum Spielball von Interessen wie es bei der Wahl des polnischen Königs der Fall war. Bis auf eine Ausnahme hatten die Habsburger die ganze Frühe Neuzeit über den Kaiserthron fest in der Hand. Schon im Mittelalter war es eher Regel als Ausnahme, dass eine Dynastie ihren Anspruch auf den Thron behielt, wenn es einen direkten männlichen Nachkommen gab.